Tagung in Bad Herrenalb (Evang. Akademie), April 05
Alte Menschen im Verbund der Generationen stehen im Zentrum
meiner Ausführungen, denn in keiner Gesellschaft geschieht Altwerden im
luftleeren Raum, sondern immer innerhalb des Verbundes verschiedener
Generationen. Mein Interesse gilt der Dreigenerationenfamilie, denn sie ist die
Form der Großfamilie, welche durch die gestiegene Lebenserwartung älterer
Menschen heute über viele Jahre möglich wird. Wenn ich von Großfamilie spreche,
habe ich jedoch nicht das Bild dreier Generationen, die unter einem Dach wohnen,
vor Augen, sondern die Vielfalt von Wohnmöglichkeiten unserer mobilen Welt. Im
ersten Teil meiner Ausführungen werde ich über die Sicht der mittleren
Generation auf das Älterwerden der eigenen Eltern referieren. Da das
Generationenproblem eine olle Kamelle ist, und Menschen überall und zu jeder
Zeit auf den Nägeln brannte, werde ich anhand von Märchen belegen, welche
typischen Haltungen und Denkmuster im Verhältnis der drei Generationen tradiert
wurden.
1. Werft die Alten hinaus
Das ist nicht der Slogan eines Stadtkämmerers, sondern ein
Typus im Verzeichnis der Märchen, der ebenso weit verbreitet ist wie die
Geschichten mit dem erschreckenden Tatbestand von der Ermordung der Greise.
Alle diese Erzählungen sind nach demselben Aufbau gestrickt:
„Wieder einmal erlässt ein Herrscher das Gebot: „Werft die
Alten hinaus". Alle Männer und Frauen, die über 70 Jahre alt sind, müssen
deshalb in die Berge gebracht werden, um dort zu sterben. Für die Gemeinschaft
sind sie eine nicht mehr zumutbare Belastung. Sie essen einfach zu viel, taugen
zu nichts mehr, belasten den Etat und sind eine Provokation für die herrschende
Altersgruppe, die Angst um die Sicherung der eigenen Existenz hat. Der Exodus
wird oft so geschildert, dass die Söhne die alten Väter aus der Stadt
hinaustragen. Sie tragen buchstäblich die Last des Alters auf ihrem Rücken zur
Stadt hinaus. Ihr Ziel ist das Tal des Todes oder, wie in Japan, der heilige
Berg Narayama. Die Alten werden ausgesetzt; manchmal bekommen sie noch
einen kleinen Mundvorrat und warten auf den Tod."
Meist sind es die Vertreter der mittleren Generation, welche
diesen Dienst an der Gemeinschaft tun müssen. Doch gibt es ein japanisches
Märchen „Gosaku und seine Großmutter", wo der Enkel die Großmutter in die Berge
bringt. Dieses Märchen ist ein einziges Loblied auf die besondere Beziehung der
beiden Generationen, die in einem ständigen Dialog miteinander sind und darauf
hinweisen, es ist an der Zeit, dass die alten Rentnergesetze dem veränderten
Bewusstsein entsprechen.
Als Kriterium für den Abtransport wird oft das Alter von
siebzig Jahren angegeben. In einem mongolischen Märchen wird Genaueres erzählt,
denn dort sieht ein Gesetz vor, dass alle alten Männer und Frauen getötet werden
sollen, sobald sie nicht mehr in der Lage sind, ein einjähriges Kalb am Schwanz
fest zu halten. Da es damals noch keine Fitnesskurse für alte Menschen gab,
wussten die Alten, dass ihr Lebensende nahe war.
Immer geht es um die gebrechliche Seite des Alters, mit der
die mittlere Generation Schwierigkeiten hat, weil sie nun den Umgang mit den
Alten als eine lästige Beziehung erleben. Im folgenden Märchen „Das lästige
Alter" aus Lappland wird das sehr deutlich dargestellt.
Es wird erzählt, wie schwer es 7 Söhne und ihren Frauen
fällt, mit dem fortschreitenden körperlichen und geistigen Abbau ihres
Vaters zurecht zu kommen. Sie können die Anwesenheit des bresthaften Vaters
nur eine begrenzte Zeit ertragen. Er muss deshalb mit seinem armseligen
Bündel von einer Sohnesfamilie zur nächsten ziehen, bis er bei der siebten
durch den Tod von seinem Leiden erlöst wird.
Irgendwann setzt sich eine veränderte Bewusstseinshaltung dem
Alter gegenüber durch, die sich in Geschichten wie der folgenden aus Portugal
zeigt:
Gegen den Brauch, die Alten auszusetzen, versteckt ein
Sohn seinen Vater, denn er liebt ihn. Als der König des Landes nächtens von
einem Alp, der durchs Fenster bricht, gequält wird, verspricht er dem, der
ihn von diesem Dämon befreit, dass er einen Wunsch frei hat. Der Vater gibt
seinem Sohn einen Rat. Der König solle in einem Raum schlafen, in dem es nur
ein einziges Fenster gibt. Das Fenster aber müsse zerschlagen werden und
nahebei müsse ein Spiegel angebracht werden. Der Sohn tut, was der Vater
geheißen.
Als der Dämon in der Nacht erscheint und sich über das bereits zerschlagene
Fenster wundert, erblickt er sich selber im Spiegel. Der Dämon glaubt, ein
anderer sei ihm zuvor gekommen und verschwindet für immer. Der junge Mann
aber, nach dem Wunsch gefragt, bittet, die Alten zukünftig nicht mehr
auszusetzen. Den guten Rat habe sein Vater gegeben. Der König erkennt, dass
man die Alten braucht. Seitdem behält man die Alten im Lande.
Der Dämon wird erschlagen, die gute Beziehung zum Vater
verinnerlicht. Dem Durchbruch des Hasses der Söhne auf die Väter widersteht
einer, weil er sich die innere Zwiesprache mit dem Vater bewahrt. Letztendlich
ist es die lebendige Bezogenheit, die beide Generationen zusammenhält und selbst
in der Stunde der Todesnähe den Humor nicht vergisst. So fängt ein alter Vater
auf dem Rücken seines Sohnes plötzlich an zu lachen und meint: „Ich lache, weil
es doch noch gar nicht lange her ist, dass ich an deiner Stelle war." Hier hält
der alte Mensch dem Jungen einen Spiegel vor, sodass dieser den Kreislauf des
Lebens in seiner natürlichen Abfolge akzeptiert und danach den Vater wieder
zurück in die Stadt trägt.
Es scheint ja nun, als ob alles paletti sei. Das jedoch ist
ein Trugschluss, denn die Märchen tischen uns neue Varianten aus dem Problemfeld
des Alters auf. Allerdings verändert sich der bisher recht grausame Tenor, weil
durch das Auftauchen der Enkelkinder eine neue Beziehung im
Dreigenerationenverbund ihre Kraft entfaltet. Was sich in den folgenden
Geschichten ereignet entspringt nicht großelterlichem Wunschdenken, sondern
spiegelt die besondere Beziehung zwischen den Jungen und Alten. Die Enkel
handeln dabei als autonome Vermittler zwischen der mittleren und älteren
Generation, deren Zusammenleben gestört ist.
2. Enkelkinder als autonome Vermittler zwischen
Eltern und Großeltern
Es wird erzählt:
Ein reicher Mann übergibt seine ganze Habe an seinen
jungen Sohn mit der Auflage, ihn auch im Alter zu versorgen. Doch die Sache
läuft nicht, wie geplant, denn nach der Hochzeit des Sohnes beginnt der
Abstieg des Vaters. Er muss unter der Treppe neben dem Schweinestall wohnen.
Als sein Enkelkind größer geworden ist, bringt dieser ihm jeden Tag sein
Essen und Trinken. Doch als der Winter kommt, friert der Großvater und
verlangt nach einer Decke. Der Enkel geht nun als Bittsteller zu seinem
Vater und sieht erstaunt zu, wie dieser Knauser die Decke in zwei Hälften
schneidet. Er will dem alten frierenden Vater also nur eine Hälfte geben.
Doch damit ist der Enkel nun gar nicht einverstanden, denn erbittet seinen
Vater, er möge ihm doch den abgetrennten Teil geben. Was will das Kind mit
der Decke? Es braucht sie nicht für sich, sondern will sie aufheben, bis die
Zeit gekommen ist und aus dem Vater ein alter Mann geworden ist.
Ist das nicht ganz schön frech und kühn? Da hält der
Vertreter der jüngsten Generation dem Vater einen Spiegel vor und zwingt ihn,
den Gesetzmäßigkeiten des Lebens ins Gesicht zu sehen. Die Moral dieser und der
folgenden Geschichten findet sich bei Walther von der Vogelweide. Er sagt, „dass
unsre Kinder uns heimzahlen, was wir an unseren Eltern verbrechen." Sitzen wir
nicht alle in einem Boot, und heißt nicht der Name des Bootes Zeit?
Ausgerechnet die Jüngsten in der Familie, die noch am längsten zu leben haben,
sagen den älteren, was Sache ist. Vielleicht haben sie am wenigsten Angst vor
dem Alter, schließlich stehen sie am Anfang ihres Lebens.
In einer indischen Fassung wird folgendes erzählt:
Der einst wohlhabende alte Vater wohnt in einem Winkel
des Hauses. Er bittet seinen Sohn um ein wärmendes Gewand. Doch dieser gibt
ihm eine drastische Antwort: „Für einen Greisen, dessen Gattin gestorben
ist, der in Bezug auf Geld von seinen Söhnen abhängig ist, der von den
Worten der Schwiegertochter gebissen wird, ist der Tod besser als das
Leben!" Der junge Vater gebietet nun seinem Sohn, dem Vater einen alten
Vorhang zu geben. Doch der Junge gibt dem Großvater nur die Hälfte. Weise
und vorausschauend sind seine Worte: „Vater, wenn das Alter an dich
herantritt, so bleibt die für dich passende Vorhangshälfte aufbewahrt." Der
beschämte Vater nimmt die Belehrungen durch den Sohn an und holt den
Großvater aus der Isolation heraus. Dieser bekommt endlich die ihm
zustehende Liebe und Achtung.
Die autonome Vermittlerrolle zwischen den Generationen ist
keinesfalls ein Wunschbild dieser alten Geschichten, denn sie zeigt sich auch in
unserer Zeit. Sobald in Familien die Frage diskutiert wird, dass der Großvater
oder die Großmutter ins Pflegeheim oder Altersheim müssen, sind es in erster
Linie die Enkelkinder, die Protest anmelden, denn aus ihrer Sicht gibt es keinen
Grund, dass die Oma oder Uroma aus ihrem gewohnten Umfeld verschwinden soll. Vor
der körperlichen Gebrechlichkeit alter Menschen haben sie keine Berührungsscheu,
eher sind sie stolz, wenn sie kindgemäß in die Pflege einplant werden. So steht
ein Vierjähriger jeden Morgen am Bett des Urgroßvaters und hilft bei der
Morgentoilette. Sein Beitrag besteht darin, das Gebiss des alten Mannes aus dem
Glas auf dem Nachttisch zu nehmen und diesem zu geben. Welch eine spannende
Sache in den Augen eines Kindes!
Bei einem Seminar erzählt die Frau eines pflegebedürftigen
Mannes von ihren zehn- und zwölfjährigen Enkeltöchtern, die sie sehr
verantwortungsvoll unterstützen und auch um das Wohlergehen der Großmutter sehr
besorgt sind. Wenn sie das Haus verlassen muss, um Besorgungen zu machen,
spricht sie sich mit den Mädchen ab, die in dieser Zeit in der Wohnung sind und
genau darauf achten, dass der Opa gut versorgt wird und stündlich seine
Medikamente bekommt. Die Großmutter ist beeindruckt davon, wie
selbstverständlich und verantwortungsbewusst die Kinder ihren Part eingefordert
haben.
Als in einer Familie auf dem Dorf der senil gewordene
Großvater ins Pflegeheim musste, wurden seine Sachen zusammengepackt. Da nimmt
der achtjährige Enkel ein Paar Socken an sich, und auf die erstaunte Frage
seines Vaters: „Was machst du denn da?" rechtfertigt er sich und sagt: „Die hebe
ich auf, wenn du ins Altenheim musst!" Dieses Ereignis folgt dem Muster der
alten Geschichten. Die Enkelkinder erleben einerseits ihre Ohnmacht, weil sie
nicht verhindern können, dass Opa oder Oma ins Heim müssen; andererseits sind
sie es, die den Tod am wenigsten fürchten, schließlich sind sie weiter entfernt
von ihm als ihre Eltern. Das gibt ihnen die Freiheit, so eigenständig zu
handeln.
Noch etwas anderes kommt hinzu: zwischen Enkel und Großeltern
besteht eine besonders vitale Beziehung. Ihre enge Verbindung drückt sich auch
in der Sprache aus, denn das mittelhochdeutsche ane ,das althochdeutsche
ano, haben eine Diminutivbildung, die heißt Enkel. Demnach ist der Enkel
die Verkleinerungsform des Ahnen. Der Enkel als der Sohn des Sohnes oder der
Tochter ist also der direkte Nachkomme in der dritten Generation. Dies erklärt
vielleicht auch ein Phänomen, das beim Tod eines alten Menschen immer wieder
beobachtetet wird: Der alte Großvater liegt im Sterben und die Angehörigen
stehen im Raum und warten auf den 18jährigen Enkel, der unterwegs ist. Als
dieser endlich da ist, kann der Großvater sterben. Dasselbe ereignete sich bei
uns in der Nachbarschaft. Eine fast neunzigjährige Frau, die in der Familie der
Tochter gepflegt wurde, starb in der Nacht, als der Enkelsohn bei ihr am Bett
die Nachtwache übernommen hatte. Bei den Tuwinern im Atai in Kleinasien sagt
man: „Wenn der Mensch seine Enkel gesehen hat, ist er zum Binnenglied in der
Kette der Generationen geworden. Er hat die ihm bestimmte Zeit erreicht, sein
Leben ist erfüllt."
Das nun folgende Märchen stammt von den Gebrüdern Grimm, die
großen Wert darauf legten, dass es in ihre Sammlung aufgenommen wird, obwohl es
ein Predigtmärlein ist und eine eindeutig didaktische Intention hat.
3. Der alte Großvater und der Enkel
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen
trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei
Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das
Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und
dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater
endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in
ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt
nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten seine
zitterigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und
zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da
kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste
er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier
Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?" fragte
der Vater. „Ich mache ein Tröglein", antwortete das Kind, „daraus sollen
Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin." Da sahen sich Mann und Frau eine
Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten ab sofort den alten Großvater
an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts,
wenn er ein wenig verschüttete.
In dieser Geschichte leben drei Generationen unter einem
Dach, und jede erlebt das Älterwerden anders. Wenn es um beginnende Senilität
und um das Nachlassen körperlicher Fähigkeiten eines Familiengliedes geht, hat
jede Generation ihre eigene Weise damit umzugehen. Die Vertreter der mittleren
Generation ekeln sich. Wovor ekeln sie sich? Vor dem alten Mann? Die
kurze Geschichte benennt sehr genau den Grund ihrer Abscheu. Es sind die
sichtbaren Folgen der nachlassenden körperlichen und geistigen Fähigkeiten des
alten Mannes, der den Löffel kaum noch halten kann, Suppe aufs Tischtuch
schüttet und obendrein auch noch sabbert und trielt. Die Sprache des Märchens
ist drastisch. Ungeschönt wird eine Veränderung im Alltag der Gefühle
beschrieben. Der alte Vater wird den Vertretern der mittleren Generation fremd.
Sie erkennen: „Vater ist gar nicht mehr er selbst." Oder „Er ist nur noch ein
Teil seiner selbst." Der lebenslange Vertraute wird zu einem unbekannten,
veränderten Menschen. In seinem Aussehen und Verhalten zeigen sich ungewohnte
Aspekte, die nur schwer auszuhalten sind. Es tut weh, den Vater so wahrnehmen zu
müssen. Die Angehörigen werden konfrontiert mit einem neuen Gefühl, das ihnen
sehr unangenehm ist: Es ist die Scham. Die erwachsenen Kinder des alten Mannes
schämen sich und dieses Gefühl trennt sie vom anderen, wirft sie gleichsam auf
sich selbst zurück. Eine Entfremdung findet statt, die alle Beteiligten als
schmerzhaft erleben. Wichtig ist es, sich diese Gefühle nicht negativ
anzukreiden, denn sie gehören in unser emotionales Ausstattungsprogramm. Die
Tränen, die Mutter und Vater weinen, nachdem sie durch das Tun und die Worte
ihre Sohnes „Ich mache ein Tröglein; daraus sollen Mutter und Vater,
wenn ich groß bin, essen" beschämt werden, tun weh. Aber die Szene macht
auch deutlich, wie Scham und Erkenntnis miteinander zusammenhängen. Das war
schon bei Adam und Eva im Paradies so; an dieser Grunddisposition hat sich bis
heute nichts geändert.
Von der Scham wird in der Geschichte nicht direkt gesprochen,
aber vom Ekel. Wann ekelt es mich eigentlich? Immer dann, wenn der Reflex des
Würgens angeregt ist. Bei den Eltern geschieht dies durch das unappetitliche
Verhalten des alten Vaters. Das überschreitet ihre spezifische Ekelschranke.
Jeder von uns hat seine ganz spezifische Ekelschranke. Sobald ihn die nicht mehr
schützt, überwiegt der Ekel, und es kann mir buchstäblich zum Kotzen sein.
Scham und Ekel überschneiden sich oft. Bei der Scham sind die
visuellen Elemente vorherrschend, und der Blick des Anderen wird als bedrohlich,
weil bloßstellend erfahren. Es ist beschämend, Schmutz und Schwäche auf Grund
mangelnder Körperkontrolle zu zeigen oder anzuschauen. Beim Ekel sind es
vorwiegend der Geruchs- und Geschmackssinn, welche den körperlichen Niederschlag
hervorrufen. Dinge, vor denen man sich ekelt, sind meist körperliche Produkte.
In der Geschichte agiert das Kind in seinem Spiel das aus,
was alle in der Familie belastet. Das Problem liegt ja buchstäblich in der Luft,
doch jetzt kommt die Konfrontation mit Scham, der Angst vor Entblößung auf den
Boden, weil allen bewusst wird, dass sich bisher schützende Grenzen verändert
haben. Die Welt steht Kopf, weil das bisher tragende Konzept der Beziehungen
sich verändert hat. Für das Kind in mir waren Vater und Mutter die Felsen in der
Brandung, doch mit ihrem körperlichen und geistigen Verfall stimmen die
Koordinaten dieser Welt nicht mehr.
Ich spinne den Faden der Geschichte weiter. Die Senilität des
Großvaters ist weiter fortgeschritten, er ist ein Pflegefall, wird von der
Schwiegertochter, Mitarbeitern der Sozialstation und dem groß gewordenen Enkel
versorgt. Der Vater kann aus beruflichen Gründen nur sporadisch eingesetzt
werden. Wie sieht das eigentlich aus, wenn Enkel Pflegeaufgaben übernehmen?
Dieser Frage gehe ich im folgenden Teil nach.
4. Enkel übernehmen Pflegeaufgaben
Findet dieser Aspekt des Umgang mit pflegebedürftigen
Angehörigen in der Öffentlichkeit eigentlich Resonanz? Bei meinen
Veranstaltungen habe ich den Eindruck, dass das folgende Beispiel kein
Einzelfall ist:
Ein Großvater ist seit vier Jahren halbseitig gelähmt und
wird von seiner Frau mit Unterstützung der Sozialstation gepflegt. Der im Haus
mit lebende Sohn und seine Familie spielen im familiären Pflegesystem nur eine
marginale Rolle. Die zwischen seiner Frau und seiner Mutter lastenden ungelösten
Konflikte wirken sich sehr nachteilig für alle aus, sodass Beziehungen seiner
Kinder zu den Großeltern nicht genug Raum haben. Damit bin ich bei einer Krux im
Dreigenerationenverbund: Offene Rechnungen, unausgesprochene Vorwürfe, Hader und
alter und junger Groll wirken sich als Beziehungskiller für die Enkelkinder aus.
Sie spüren, wenn die Mama mit der Oma auf dem Kriegsfuss steht und kommen
dadurch in Loyalitätskonflikte. Eigentlich würden sie schon gerne beim Opa am
Bett sitzen, doch wenn das bei der Mama nicht gerne gesehen ist, dann ist nicht
jedes Enkelkind ein kleiner Held und fordert sein Recht auf eine eigenständige
Beziehung zu seinen Großeltern ein.
In der Großfamilie haben es die Enkelkinder von der Tochter des Gelähmten
leichter. Sie leben an einem anderen Ort, und ihre Beziehung zum Großvater
intensiviert sich, seit er krank ist. Als sie sich groß genug fühlen, verlangen
sie aktiv in die Organisation der Pflege am Wochenende mit einbezogen werden.
Weder der Junge noch das Mädchen haben Scheu davor, den Großvater zu baden, zu
füttern, Zeit mit ihm am Bett zu verbringen. Außenstehende sind überrascht und
vergessen, dass in unserer Gesellschaft Hunderttausende von
Zivildienstleistenden dafür einstehen, dass unser Pflegesystem noch
funktioniert.
Im Gespräch mit den großen Enkeln wird klar, dass Scham und
Ekel sie wenig belasten und offensichtlich dem Großvater ihre pflegerischen
Zuwendungen sehr angenehm. Zwischen diesen beiden Generationen fließt von Natur
aus ein Strom von Sympathie, der nicht beeinträchtigt wird durch
Ablösungskonflikte und Machtspiele zwischen der mittleren und älteren
Generation. Wie Großeltern mit Krankheit, Leiden, Sterben und Verlust umgehen,
ist eine ihrer wesentlichen Botschaften an die Enkel. Sie machen die
Begrenztheit des Lebens zu einem Bestandteil des Alltags. Eine Untersuchung aus
USA zeigt, dass Kinder umso weniger Angst vor dem Sterben haben, je intensiver
und enger ihr Kontakt mit den Großeltern ist. Aber auch die gegenteilige
Erfahrung soll nicht verschwiegen werden: alte Menschen, die unter ihrem
Altwerden leiden und nur noch jammern und klagen, vermitteln ihren Enkeln ein
Bild des Lebens, das wenig ermutigend ist.
5. Wohin mit den Alten?
Ich nehme die Eingangsfrage noch einmal auf, In etwas
abgeänderter Form stellte sie unser großer Enkel, als er wissen wollte: „Oma,
gehst du eigentlich mal ins betreute Wohnen?" Hand aufs Herz, diese unverblümte
Anfrage hatte mir mehr zugesetzt als die von meinen Enkeln oft gestellten Fragen
nach dem Lebensende. Doch dann wurde mir klar, dass der Vertreter der jüngsten
Generation eine Frage stellt, welche die Zukunft der Dreigenerationenfamilie
betrifft. Ein wichtiger Impuls, um das Unangenehme einfach schon mal anzudenken.
Auch dies ist ein Einüben in die Unabänderlichkeiten des Lebens, angestoßen
durch die Enkel und von daher auch meist mit Humor getränkt.
Wohin mit den Alten? In Zeiten, in denen menschliche
Beziehungen vorrangig unter ökonomischen Aspekten gesehen werden, wuchern die
verschiedenen Generationen im Familienverband mit einer Währung, die nicht
zinsgünstig auf der Bank anzulegen ist. Es ist die alte und immer wieder neue
Einsicht, dass soziale Beziehungen das wichtigste Kapital des Lebens sind.
Die BAT - Studie Der Generationenpakt - das Netz der
Zukunft spricht vom Sozialkapital, das neben der finanziellen Sicherung ein
von den Gesetzen des Marktes unabhängiges und wertvolles Gut ist. Investiere
beizeiten in Beziehungen, dann hast du Unterstützung in der Not, so heißt die
Devise, nach der mehr Menschen ihr Leben ausrichten, als es in der
Öffentlichkeit den Anschein hat. In diesem Zusammenhang kommt der Pflege der
Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkindern eine große Bedeutung zu. Victor
Hugo nannte die Enkel die Morgenröte des Alters.