Vortrag beim Frauenfrühstück in Ottoschwanden 2004
Heute morgen möchte ich mit Ihnen einen Weg gehen, doch ist
es kein Ausflug mit einem bestimmten Ziel, denn das lässt die Formulierung des
Themas nicht zu. Überhaupt das Thema unserer Veranstaltung. Fehlt da nicht noch
etwas? Eine klare Fragestellung zum Beispiel, dann wäre wenigstens die Richtung
des Weges schon ein wenig vorgegeben, und frau wüsste dann, worauf sie sich
einlässt. Zunächst bleibt vieles offen, nur meine Blätter sind voll geschrieben
mit vielen Sätzen.
Gehen wir doch einfach los! Zunächst geht es in ein Gebiet, das uns zwar von
klein auf vertraut ist, das uns aber ab und an nicht ganz koscher vorkommt, weil
wir dort auf Unerwartetes und Unbekanntes treffen. Der Weg führt in Inneres,
dieses Innere ist vielschichtig: Einmal führt der Weg ins Innere der Sprache,
denn wir wollen mehr erfahren über die Bedeutung der Worte achtsam – wachsam –
miteinander. Gleichzeitig führt der Weg aber auch in unser Inneres. Allerdings
geht das nur, wenn sich dieses Innere auch öffnet.
Da komme ich also zu diesem Frauenfrühstück, habe mich
gesättigt, bin froh, dass mein Kind im Kindergarten versorgt ist, ich endlich
ein wenig Ruhe habe. Schon taucht der erste Anspruch an mich auf: Ich soll mich
öffnen! Ist das nicht eine Zumutung, so früh am Tag schon wieder aus der
Alltagsstruktur auszusteigen? Ich bin doch froh, wenn ich alles im Griff habe,
die Maschinerie meiner Familie ungestört läuft, nichts aus dem Ruder geht.
Achtsam bin ich schon, schließlich achte ich Tag für Tag darauf, dass
Abmachungen und Vereinbarungen eingehalten werden. Das geht aber nur mit
Kontrolle. Einer muss doch die Zügel in der Familie in der Hand halten. Ehrlich
gesagt, es fällt mir schon schwer, die Zügel etwas locker zu lassen oder manches
aus der Hand zu geben.
Achtsamkeit führt nach innen
Schon sind wir mitten im Thema. Der Weg nach innen ist nicht
automatisch frei. Er ist blockiert durch die Anforderungen des Alltags. Doch das
kriegen wir auch noch unter Kontrolle, die Gedanken laufen auf Hochtouren und
erste Strategien zur Lösung des Problems werden angewandt. Aber die Felsblöcke
auf dem Weg nach innen wollen nicht weichen, werden eher noch mehr. Eine
entmutigte Stimme sagt: „Ich will nicht mehr! Ist mir doch egal!" Ausgerechnet
mit diesem Eingeständnis verändert sich etwas. Der Atem strömt gleichmäßiger als
zuvor, denn wenn der Impuls „egal" ans Großhirn geht, dann wissen die Hände,
jetzt dürfen wir endlich mal wieder im Schoß bleiben. Mit diesem Zugeständnis
„es ist mir egal" kommt Ruhe in den Organismus und schon sehen die Felsbrocken
auf dem Weg ins Innere kleiner aus. Mit einem eleganten Satz bin ich drüber. Die
Tür in die geheimnisvollen inneren Räume hat sich geöffnet.
Ob es auf diese Weise geschieht? Vielleicht erlebt jede von
uns die Öffnung ihres Inneren ganz verschieden. Es gibt Menschen, die schwören
auf erprobte Praktiken und Methoden, um mit ihrem Inneren in Kontakt zu kommen.
Wie komme ich raus aus dem Räderwerk des Gewohnten? Gib dir doch einfach den
mentalen Befehl, loszulassen, sagt eine Meditation erfahrene Freundin. „Du
sollst loslassen, kapierst du das nicht? Lass endlich los!" Doch das
entsprechende Zentrum im Gehirn schaltet einfach nicht entsprechend. Dann eben
so nicht, heißt die nüchterne Erkenntnis. Lieber ein paar mal kräftig ein- und
ausatmen, und schon habe ich den Eindruck, da lässt mich etwas los. Nicht ich
lasse los, sondern Es lässt mich los! Die innere Anspannung hat sich gelegt. Ich
spüre Veränderung, nehme mich eindrücklicher wahr, fühle mich lebendig und gut.
Auf dem Weg zu mir lerne ich Achtsamkeit kennen. Zunächst erfahre ich sie
als eine Kraft, die mich ganz zu mir führt. Erfüllt von Achtsamkeit bin ganz bei
dem, was ich tue. Ich achte auf die Handgriffe meiner alltäglichen Routine und
bin im Einklang mit mir und meinem Tun. Die Energie der Achtsamkeit teilt sich
nicht nur mir mit, sondern strahlt auch nach außen ab. Dir geht es heute richtig
gut, sagt die achtsame Stimme eines Gegenübers. Auf diese Weise entsteht ein
Energiefeld der Achtsamkeit.
Solche Erfahrungen sind nicht an Orte gebunden. Es kann beim
Einkaufen sein. Ich stehe zwar in einer langen Schlange, aber die Unruhe um mich
herum geht mir nicht unter die Haut. Es ist, als ob ich von einer Schutzhaut der
Achtsamkeit umgeben bin. Seit ich das weiß, haben Einkaufsschlangen ihren Horror
für mich verloren. Ich stehe in einer Reihe von Menschen, die hintereinander
aufgereiht sind. Ich habe mich eingereiht, werde weiter geschoben und schiebe
meinen Wagen weiter und spüre, wie mich dieses Ritual beruhigt, mir gut tut. In
England wird die Tugend des Schlangestehens besonders hoch gehalten. Vielleicht
liegt darin ein Grund für die Unaufgeregtheit vieler Engländer. Take it easy,
auch dies ist ein Motto für achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen.
Die Tugend der Achtsamkeit hat es schwer
Die Tugend der Achtsamkeit hat es schwer in unserer unruhigen
Welt. Wer mit dem Handy am Ohr durch die Strassen läuft, dem fehlt eine freie
Hand und ein freies Ohr für die Interaktion mit den Menschen, die ihm begegnen.
Von ihm strahlt keine Achtsamkeit aus, eher der Eindruck, das virtuelle Gespräch
ist wichtiger als alles andere. Im ICE werde ich zwangsläufig Zeuge von sehr
privaten Handybekenntnissen. Ich befinde mich in einer eigenartigen Situation:
Eigentlich geht mich das alles nichts an, es interessiert mich auch nicht im
geringsten. Aber ich kann die Redeflut meines Nebensitzers nicht durch
Knopfdruck abstellen. Ohnmächtig bin der Situation ausgeliefert.
Die Tugend der Achtsamkeit hat es schwer, weil sie Zeit
braucht, um überhaupt entstehen zu können. Da im Medienzeitalter aber der Druck
auf den Knopf allemal schneller ist, werden ihr die Existenzbedingungen schnell
streitig gemacht. Deshalb klagen wir über eine Zunahme von Unachtsamkeit und
Rücksichtslosigkeit wie das folgende Beispiel zeigt: Ein Mann läuft langsam über
den Parkplatz, und eine junge Frau mit dem gezückten Autoschlüssel in der Hand
ist dabei, direkt in ihn hinein zu laufen, so dass er ins Stolpern kommt. Warum
weicht sie nicht aus? Wieso funktioniert ihre soziale Wahrnehmung nicht?
Bevor ich diese Fragen beantworte, stelle ich mich an die Eingangtüren eines
großen Kaufhauses und schaue zu. Die meisten Käufer stoßen die Tür auf, ohne
sich durch einen Blick nach hinten abzusichern. Was hinter mir ist, das kümmert
mich nicht. Wer gelernt hat, sich auf dieses unhöfliche Verhalten einzustellen,
hat längst seine Hand ausgestreckt, um sich vor der zurückpendelnden Tür zu
schützen. Es sieht so aus, als ob der Slogan „Nach mir die Sintflut" das
Verhalten vieler in der Öffentlichkeit bestimmt. Was sich in meinem Rücken
ereignet, geht mich nichts an. Das ist nun in der Tat eine gute Definition von
Rücksichtslosigkeit. Nach mir kann geschehen, was da will. Wenn auf der
anderen Straßenseite Kinder zu streiten anfangen, was geht mich das an? Das ist
deren Problem. Ich schaue weg. Es ist, als ob unsichtbare Scheuklappen das
eigene Ich schützen und gleichzeitig die Optik verkleinern.
Zurück zur Frage, wieso die Frau auf dem Parkplatz vor dem
Zusammenstoß mit dem Spaziergänger nicht ausweicht. Sie hat doch als Kind von
klein auf gelernt, sich auf andere einzustellen, sich in ihren Bewegungen auf
andere abzustimmen, denn das ist ein wichtiges Kapitel in der kindlichen
Entwicklung. Sobald Kinder fähig sind, ihren Bewegungsdrang so zu steuern, dass
sie anderen keinen Schaden zufügen, haben sie ein großes Maß an sozialer
Kompetenz gewonnen. Deutlich wird dabei, dass mangelnde Achtsamkeit von
mangelnder Abstimmung mit anderen herrührt. Eigentlich verläuft diese Abstimmung
ja ganz automatisch. Wenn sie gestört ist, funktionieren die entsprechenden
Sensoren nicht. Es fehlt also an einer sensiblen Wahrnehmung des anderen.
Achtsamkeit macht sensibel
Damit bin ich bei einem weiteren wichtigen Merkmal von
Achtsamkeit: Menschen verfügen über innere Sensoren, mit denen sie wahrnehmen,
was um sie herum geschieht. Jeder von uns lebt im Feld seiner Wahrnehmung und
gestaltet dieses. In ihm lebt alles, was uns wichtig und achtenswert ist. In
erster Linie sind das Erwachsene und Kinder, alte und junge Menschen unserer
Gemeinde, aber auch Tiere, Blumen, Bäume, Büsche oder Gegenstände, die zur
Wohnung gehören. Dabei begegnen wir den Objekten, die wir lieben, mit der
größten Achtsamkeit, weil der Umgang mit ihnen uns immer wieder die Möglichkeit
gibt, mit unserem Inneren in Kontakt zu kommen. Achtsamkeit kann in die Tiefe
führen und verbindet mein Inneres mit meinem alltäglichen Tun. Diese Erfahrung
der Tiefe wird als etwas sehr Schönes erlebt, weil dann Innen und Außen im
Einklang sind. Ich bin mit mir im Einklang. Jede von uns hat ihre bevorzugten
Verrichtungen im Alltag, wo sie spürt, da bin ich ganz bei mir. Für mich
geschieht das, wenn ich mich mit den Blumen in der Wohnung beschäftige. Da
fließt die besondere Energie der Achtsamkeit, aber auch beim Malen, bei der
Arbeit am Speckstein, manchmal beim Kochen. Wer von ihnen ein Musikinstrument
spielt, weiß, wie viel Achtsamkeit nötig ist, um sich mit seinem Instrument
immer wieder abzustimmen.
Achtsame Menschen im Märchen
Ich will mich nicht an die Klagemauer stellen und über die
Zunahme von Rücksichtslosigkeit in unserer Gesellschaft jammern. Viel lieber
mache ich mich auf die Suche nach Menschen, bei denen ich abschauen kann,
was es mit der Tugend der Achtsamkeit auf sich hat. Sie sind leicht zu finden,
sobald ich ein Märchenbuch aufschlage, allerdings nicht am Königshof bei
Prinzen, Prinzessinnen oder gekrönten Häuptern, sondern bei denen, die von den
anderen Dummling genannt werden. Häufig tauchen in Märchen drei Brüder - oder
wie bei Aschenputtel - drei Schwestern auf, wobei der oder die Jüngste von den
älteren missachtet wird. Der Dummling gilt als ein einfältiger Mensch, dem
keiner etwas zutraut, der auch erst in die Welt hinaus darf, um sein Glück zu
suchen, wenn die beiden älteren Brüder bei der Lösung ihrer Aufgaben versagt
haben.
Im Märchen „Die goldene Gans" bekommen der Älteste und der
Zweitälteste von der Mutter als Proviant schöne feine Eierkuchen und eine
Flasche Wein mit auf den Weg. Der Jüngste muss sich mit einem Kuchen begnügen,
der war mit Wasser in der Asche gebacken, und dazu gab es eine Flasche saures
Bier. Jeder der Brüder muss in den Wald zum Holzhauen. Kaum ist der Älteste dort
angekommen, tritt ihm ein kleines graues Männchen in den Weg und bittet um Essen
und Trinken. Doch damit war der nun gar nicht einverstanden und argumentierte
durchaus modern: „Wenn ich dir meinen Kuchen und meinen Wein gebe, dann habe ich
ja selber nichts. Also hau ab!"
Beim zweiten Sohn verläuft die Geschichte genauso. Die Mama packt ein, was gut
schmeckt und ab geht es in den Wald, wo das kleine graue Männchen wieder genährt
sein will. Doch auch dieser junge Mann argumentiert wie sein Bruder: „Was ich
dir gebe, das geht mir selber ab. Also verpiss dich!" Zielgerichtet beginnt er
seine Arbeit, doch die Axt ist wie verhext und fährt in sein Bein, so dass er
verletzt nach Hause getragen werden muss. Dem Ältesten war es ebenso ergangen,
denn im Märchen kommt nur zum Ziel, wer nicht gierig nur auf sich schaut.
Achtsamkeit wird belohnt, Unachtsamkeit rächt sich!
Einspruch, sagt die Realistin in mir. Ist die Strafe nicht
doch ein wenig hart? Was haben die beiden falsch gemacht? Sie handeln doch
wie gute Arbeiter, die aus Erfahrung wissen, beim Hobeln fallen Späne und beim
Holzhauen geht viel Energie drauf. Also ist es sehr wichtig, sich mit einer
ausreichenden Menge Nahrung in Form zu halten. Das ist richtig, aber wer so
argumentiert vergisst, dass die Burschen die Bekanntschaft des kleinen grauen
Männchens machen und blind sind für die Bedeutung dieser besonderen Begegnung.
Im wahrsten Sinn des Wortes verhalten sie sich unachtsam und schenken den Worten
des Männleins keinen Glauben. Was der sagt, ist Luft für sie. Da könnte ja jeder
kommen! Man weiß ja schließlich, was für Gesindel sich im Wald rumtreibt. Trau
schau wem!
Von diesen beiden Protagonisten lässt sich also nichts
lernen. Anders wird das, als der Jüngste im Wald ankommt. Er hat keine Mühe
damit, von seinen Nahrungsmitteln abzugeben und weist fürsorglich darauf hin,
dass es nicht gerade Handelsklasse I ist, was er anzubieten hat. Dann setzte er
sich mit dem grauen Männlein nieder. Als er seinen Aschenkuchen herausholte, war
es ein feiner Eierkuchen, und das Bier war ein guter Wein. Als Dank gibt ihm das
kleine graue Männchen den Rat, einen alten Baum zu fällen. Das tut er, ohne sich
zu verletzen und findet in dessen Wurzeln die goldene Gans.
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als habe der
Jüngste sein Glück ausschließlich dem kleinen grauen Männlein zu verdanken, wird
beim näheren Hinschauen deutlich, er hat sehr viel dazu beigesteuert. Seine
innere Haltung, sein Verhalten, sein Auftreten sind von großem Vertrauen ins
Geschehen erfüllt. Er kann sich ohne Vorbehalt einlassen auf den kleinen grauen
Mann. Selbst die jahrelange fiese Behandlung durch seine Familie hat ihm dieses
Grundvertrauen nicht nehmen können. Wer so durchs Leben geht, hat einen weiten
Blickwinkel, hellhörige Ohren, ist neugierig auf das, was passiert. Mal sehen,
was kommt! Das ist ein gutes Motto für die spirituelle Kraft der Achtsamkeit.
Dann ist das Leben voller Überraschungen, weil das Alltägliche zum Besonderen
wird, das Nichterwartete geschieht. Aus Aschekuchen wird Eierkuchen, und aus
saurem Bier ein guter Wein.
Von einem weiteren Dummling soll die Rede sein. Er hat sein
Erbteil ausbezahlt bekommen und zieht in die Welt. Aber kaum hat er sich in
Bewegung gesetzt, macht er die Dummheit seines Lebens. Seine Nachbarn, Freunde
und seine Familie schlagen die Hände über dem Kopf zusammen. Wir haben es ja
gewusst, aus dem kann nie ein rechtschaffener Mensch werden. Warum die ganze
Aufregung? Seine skandalöse Tat besteht darin, dass er für einen unbegrabenen
Toten die Beerdigungskosten übernimmt und damit pleite geht.
Wenn in antiker Zeit ein Mensch starb, der Schulden hinterließ, so verfügte der
Gläubiger, der ihm das Geld geliehen hatte, nach dessen Tod auch über seinen
Leichnam. Nach altgriechischem und altrömischen Recht durften verschuldete Tote
nicht bestattet werden. Der Brauch, den Leichnam eines verschuldeten Toten nicht
zu bestatten, erklärt sich am ehesten als eine Art transzendente Schuldhaft. Der
tote Körper durfte sogar geschlagen oder getreten werden.
Sobald der Dummling Zeuge einer solchen Misshandlung wird,
gebietet er Einhalt und sorgt für die Bestattung, wird dafür in einem
italienischen Märchen für seine Einfalt verspottet. Sein Vater sagt: „Du dummer
Narr, der Tote hat ja die Schläge nicht gespürt!"
Doch der Dummling sieht das anders. Ohne Rücksicht auf sich und die finanziellen
Interessen seiner Familie hilft er dem anscheinend gefühllosen Toten. Damit wird
er zum Träger besonderer Werte. Auf einmal wird sichtbar, dass er unterschätzt
wurde, denn er zeigt seine große Achtsamkeit allen Bereichen des Lebens
gegenüber. Und da gehört der Tod dazu. Sobald der Tote unter der Erde ist, setzt
er seinen Weg fort. Völlig mittellos und allein bewegt er sich über die
Landstrasse, als plötzlich ein unbekannter Begleiter neben ihm auftaucht, der
sich als Geist des dankbaren Toten erweist und zu einem hilfreichen Begleiter
wird.
Hier wird etwas sichtbar von der natürlichen Ehrfurcht dem
Leben in seiner Ganzheit gegenüber. Ehrfurcht vor dem Leben ist ja ein Begriff,
der für Albert Schweitzers Denken und seine Arbeit von besonderer Bedeutung war.
Er spricht von der Scheu und Scham, das Ehrwürdige zu verletzen oder ihm in
taktloser Weise zu nahe zu treten. Es geht dabei immer um das Leben in seiner
Verletzlichkeit. Bereits als Kind hat er darunter gelitten, dass die armen Tiere
so viel Schmerz und Not auszustehen haben, deshalb hat er sie in sein Abendgebet
eingeschlossen. Doch die große Achtsamkeit dem Leben gegenüber schließt auch die
Pflanzen ein und erweitert sich auf alles Leben, das in der Welt ist und in den
Bereich des Menschen tritt.
Aus Kindern spricht diese große Achtsamkeit für alles, was
lebt, noch unverstellt und unmittelbar. Ich laufe hinter einer Muter mit zwei
Kindern, die Adventsreisig im Arm trägt, her. Da fällt ein kleiner Tannenzweig
ab und bleibt auf der Strasse liegen. Der Junge bleibt sofort stehen und zeigt
mit dem Finger darauf. Doch die Mama bittet ihn weiterzugehen, das sei ja nur
Abfall. Aber der Bub lässt sich davon nicht beeinflussen, hebt den kleinen Zweig
auf und trägt ihn stolz nachhause. Das ist kein Abfall, das ist mein
Adventszweig!
Wer achtsam ist, weiß um den Wert des Lebendigen, weiß deshalb auch um den Wert,
den er selber hat, kann sich hoch schätzen, weil er sich selbst etwas bedeutet,
und das nicht nur in Ausnahmesituationen, wo etwas Besonderes zu leisten war,
sondern immer wieder im Alltag.
Achtsamkeit gegenüber meinen Träumen
Jetzt komme ich noch einmal zu der Frage zurück. Wie werde
ich eine achtsame Frau? Ganz am Anfang meiner Ausführungen habe ich davon
gesprochen, dass der Weg zur Achtsamkeit nach innen führt. Deshalb heißt die
Frage nun: Wie lerne ich mein Inneres kennen? Das ist sehr einfach, denn die
Natur hat uns dafür die Gabe der Träume gegeben. Es geht im folgenden also um
die Achtsamkeit meinen Träumen gegenüber. Wenn wir schlafen und träumen, läuft
in uns ein filmartiges Geschehen ab, das wir weder verursachen noch steuern
können. Träume werden in unser Bewusstsein eingespeist durch eine Energie, die
aus dem Unbewussten fließt. Sie drückt sich in Bildern und Szenenfolgen aus, die
beim Aufwachen einen körperlichen Niederschlag verursachen. Gleichzeitig erfolgt
ein Moment der Rückbesinnung, so dass der Trauminhalt in unser Tagesbewusstsein
hineingenommen wird.
Manche Träume kriegen wir auch während des Tages nicht aus
uns heraus. Ihre Bilder beschäftigen unsere Gedanken, wir spüren sie noch in uns
und gehen ihrer Spur nach, weil irgendwie noch nicht klar ist, was es mit diesem
Traum auf sich hat. Von einem Traum kann ich mich aber nur bewegen lassen, wenn
ich ihm in meinem Tagesbewusstsein Raum gebe und nicht sage, das ist alles
Altweiberkram oder Aberglaube. Viele Menschen schreiben sich morgens beim
Aufstehen auf, was sie geträumt haben. Diese achtsame Haltung hat eine große
Wirkung, denn sie führt dazu, dass sich innere Räume in großer Zahl bilden. Das
macht uns reich und diesen Reichtum kann uns niemand nehmen.
Träume und Märchen drücken sich in Bildern und Symbolen aus.
Nie sind sie ganz eindeutig, immer bleibt etwas von ihrer Bedeutung in der
Schwebe, deshalb faszinieren sie uns ja immer wieder. Symbole sind
Energieumsetzer. Deshalb wachen wir aus einem guten Traum froh und gestärkt auf,
nach einem weniger guten Geschehen oder einem Albtraum drückt uns die Energie
des Traums eher nach unten.
Wer seinen Träumen Raum gibt, macht wichtige Schritte, um die
Ganzheit seiner Person zu leben. Wir sind ja erst ganz, wenn Innen und Außen im
Austausch miteinander sind. Unsre Nachtseite braucht die Verbindung zur
Tagseite. Dann kann die Energie des Lebens frei fließen. Deshalb sind Menschen,
die in Kontakt sind mit ihren Träumen, so lebendig und animierend. Sie wissen,
auch wenn mein Tagesbewusstsein mal wieder übers Ziel hinaus schießt, der Kopf
mal wieder zu viel will, die Stimme aus dem Bauch überhört wird, dann kann ein
Traum meine Einseitigkeit korrigieren und ergänzen. Wenn die äußere und die
innere Erfahrung in Beziehung zueinander gesetzt werden, ergibt sich ein Ganzes.
Die Nachtseite steht in lebendigem Austausch mit dem Tag. In diesem Prozess
wirkt der Traum als Transformator.
Wenn ich jetzt zum nächsten Schwerpunkt meines Referates zur
Wachsamkeit komme, dann benutze ich eine Funktion des Traums als Brücke.
Wachsam sein
Träume tragen zu innerer Wachsamkeit bei, denn sie weisen auf
verschlüsselte Art auf das Kommende hin. Deshalb sagen manche Frauen, wenn eine
wichtige Entscheidung zu fällen ist, ich will erst mal sehen, was der Traum dazu
sagt. Diese innere Wachsamkeit hilft gleichzeitig, die Botschaft des Traums zu
verstehen. Auf der anderen Seite passiert auch das Umgekehrte, ich träume und
habe am nächsten Tag den Eindruck, da ist etwas im Busch, da kommt etwas Neues
auf mich zu, da gibt es Veränderung, ob es mir passt oder nicht. Der Traum hat
mich wachsam gemacht. Das heißt aber nun nicht, dass ich auch wachsam bleiben
werde. Eher passiert es, ich werde müde, vergesse das Neue, will alles so
lassen, wie es ist. Vielleicht weckt mich dann ein Angsttraum auf und macht mir
Beine.
Seid wachsam! Aber oft siegt die Müdigkeit. Wenigstens in
vielen Märchen ist es so, und Märchen erzählen ja von der Realität des Lebens.
Im Märchen „ Der goldene Vogel" hatte ein König einen schönen Lustgarten hinterm
Schloss und darin stand ein Baum, der goldene Äpfel trug. Als die Äpfel reiften,
wurden sie gezählt, aber am nächsten Morgen fehlte einer. Wo ist der Apfeldieb?
Der älteste Sohn will das rauskriegen, doch er schläft ein. Auch der zweite Sohn
verpennt die Nacht im Garten, und nur dem Jüngsten gelingt es, die Augen offen
zu halten. Als der goldene Vogel durch die Lüfte rauscht, einen goldenen Apfel
raubt, schießt er einen Pfeil ab, der Vogel entkommt, aber eine goldene Feder
fällt zu Boden.
Etwas Kostbares verschwindet, wird geraubt. Da bricht etwas
aus einer unbekannten Welt ein. Der Verstand erlebt es als Ärgernis, aber auch
als Mangel, der behoben werden muss. Hätte ich nur besser aufgepasst! Hätte ich
nur schneller geschaltet! Wie konnte ich nur so blöd sein! Das hätte ich mir
doch denken können! Das ist der Chor der inneren Stimmen, die sich melden, wenn
wir meinen, nicht wachsam gewesen zu sein.
In einem Märchen aus Turkestan wirft eine Stute jedes Jahr
ein Füllen, das aber noch in derselben Nacht auf unerklärliche Weise
verschwindet. Im dritten Jahr wacht der Jüngste; er greift zu einer Radikalkur,
um wach zu bleiben: Er schneidet sich in den kleinen Finger, streut Salz hinein,
und der Schmerz verscheucht den Schlaf. Zwar kann auch er den Diebstahl des
Fohlens nicht verhindern, aber er hat wenigstens eine Ahnung davon, wie es
weitergehen könnte. Wachsam sein. Schmerz macht wachsam. Schmerz erhöht die
Aufmerksamkeit, weckt unerbittlich auf und hindert beim Einschlafen. Wer kennt
es nicht, von Schmerzen aufgeweckt zu werden, vor Schmerzen nicht schlafen zu
können?
So viel Getue um Wachsamsein! Warum ist das so wichtig? In
den verschiedenen Bildern der Märchen drückt sich doch immer wieder dasselbe
aus: Die Seele erleidet einen Verlust. Ein Mangel ist entstanden, und es geht
nun darum, das Fehlende zu suchen. Dann kann der Verlust gleichzeitig zu einem
Aufruf werden, sich in Bewegung zu setzen. Seid wachsam, so wie bei den
Israeliten am Vorabend ihres Auszuges aus Ägypten. Da hat keiner geschlafen.
Deshalb ist im Bereich des Religiösen auch so viel von Erweckung die Rede. Das
bedeutet Selbstbesinnung, Einkehr und Rückkehr zu Gott.
Wachsam sein als innere Haltung. Im Hohen Lied heißt es „Ich
schlief, doch mein Herz war wach!" Es geht um eine Achtsamkeit des Herzens, die
gleichzeitig eine Wachtsamkeit ist. Dieses Wort klingt für unsre Ohren fremd,
doch bevor man im 16. Jahrhundert zum Wort achtsam überging, sprach man von
Wachtsamkeit. Im Gesangbuch finden sich sechs Lieder, deren Titel ein Ruf zur
Wachsamkeit ist. „Wach auf mein Herz und singe" „Wach auf, wach auf, du
deutsches Land" „Wachet auf, ruft uns die Stimme". Das Lied der klugen
Jungfrauen. Sich auf den Weg machen, innerlich bereit sein zum Aufbruch. Offen
sein. Offene Ohren, die den Ruf hören.
Miteinander
Spätestens als der Dummling mit dem kleinen grauen Männchen
sein miserables Essen teilte, zeigte sich der Wert des Miteinanders. Es hat eine
verwandelnde Kraft. Auf einmal schmeckt es besser als erwartet. Warum ist das
so? Weil sich in der Gemeinschaft mit einem anderen Menschen die Sinne schärfen.
Ein Begegnung findet statt. An Tagen, an denen sich das Leben schwer anfühlt,
bin ich darauf angewiesen, dass mir jemand begegnet. Ich bin hungrig nach
menschlicher Nähe. Wenn ich Glück habe, treffe ich jemanden. Eine Hand legt sich
auf meine Schulter. Diese Berührung tut gut. Ein warmer Händedruck. Ein
Streichen über den Kopf, da nimmt mich eine in den Arm, und ich kann es
geschehen lassen, weil Wände eingefallen sind, hinter denen sich das Ich
abgesichert hatte. Das alles geschieht, ohne etwas zu wollen. Ausdruck und
Zeichen für schwesterliches von Herzen getragenes Dasein.
Miteinandersein, und auf einmal spüre ich, ich bin nicht allein. Das habe ich
zwar irgendwie gewusst, aber jetzt spürt es mein Herz, freut sich meine Seele.
Wir begegnen einander. In jeder lebendigen Beziehung sind Begegnungen Stellen,
wo alle aneinander wachsen. Aber manchmal gelingt es einfach nicht, da ist man
zusammen und geht doch aneinander vorbei. Einen ganzen Abend lang. Wie war’s?
Ich war so müde hinterher. Es gab zwar gutes Essen, aber ich bin irgendwie leer
nachhause gegangen.
Und dann ungeplant und nicht erwartet geschieht es. Wir begegnen einander, auf
der Strasse, im Bus, es sind nur wenige Minuten, und doch sind sie erfüllt von
der Vibration unserer Begegnung. Erfüllt gehen wir auseinander, wir machen
keinen Termin aus fürs Wiedersehen, wir vertrauen darauf, dass wir uns
irgendwann wieder so begegnen.