Vortrag beim Bezirksfrauentag in Emmendingen 2002
Wenn es ums Älterwerden geht, kann der Vergleich dieses
natürlichen Vorgangs mit einem Abenteuer durchaus befremdlich oder ein wenig
übertrieben wirken. Alter und Abenteuer wollen nicht so richtig zusammenpassen.
Abenteuer, das ist doch etwas für die Jugend! Ja, in dem Altersabschnitt gibt es
den Drang nach Abenteuer, nach fremden Ländern. Da ruft eine
unternehmungslustige Stimme: Welt, hier bin ich, was hast du mir zu bieten?
Doch mit zunehmendem Alter geht diese Neugier verloren, weiß man ja, wie es
in der Welt zugeht, ist auf der einen Seite froh, seine Ruhe zu haben, auf der
anderen Seite meldet sich aber von Zeit zu Zeit eine mahnende Stimme, die
murmelt: Das kann doch nicht alles gewesen sein. Da muss doch noch etwas
passieren in deinem Leben. Fang doch endlich etwas Neues an. Du gehörst doch
noch nicht zum alten Eisen!
Wenn solche Gedanken sich im Kopf bewegen, sind sie meist mit
einem belebenden Gefühl verbunden. Auf einmal strömt Kraft in den Körper, wagen
sich Phantasien ins Weite, erscheint das Leben in besserem Licht als zuvor. Es
ist, als ob eine Tür aufgeht, durch die ich treten kann, auf einen Weg gelange,
von dem ich nicht weiß, wohin er führt, aber es tut gut, so zu gehen. Ob dieser
Weg nun in ein Abenteuer führt, das ist noch nicht zu erkennen. Aber mein
Herzschlag beschleunigt sich, meine Schritte werden schneller, der Atem strömt
frei und ungehindert.
Schade, dass diese Stimmung nicht von Dauer ist. Am nächsten
Morgen, wenn eine müde Schwere in mir steckt, das gute Fühlen sich erst wieder
einfindet, nachdem ich altes Eisen zur Seite geräumt habe, melden sich Zweifel.
Ein anderes Wort fällt mir ein: Mut, Wagemut. Er zeigt sich im Alltag, wenn ich
mich einlasse auf Unbekanntes und Neues, mich die Kommentare meiner Mitmenschen
nicht kümmern, z.B. So etwas willst du tun? Hast du denn ganz vergessen, wie
alt du bist? Ein Mann in deinem Alter tut so etwas nicht! Wenn es dem Esel zu
wohl wird, geht er aufs Eis! Ich lasse mich von diesem empörten
Kopfschütteln nicht anstecken, denn es treibt mich dazu, in meinem Alter über
Barrieren und Zäune zu springen. Wenn es gelingt, geht es mir gut danach! Dann
riecht das Älterwerden schon ein wenig nach Abenteuer.
Bei Kindern steht das Älterwerden sehr hoch im Kurs. Sie
wollen größer und älter werden. In dieser Phase des Lebens wird das Vergehen der
Zeit als etwas Gutes angesehen, kann es oft nicht schnell genug gehen, bis der
Geburtstag da ist. Voll Stolz hält das Kind die 5 Finger seiner Hand hoch, um
sichtbar zu machen, wie alt es ist. Diese hohe Wertschätzung des Älterwerdens
hört im Laufe des Lebens allmählich auf. Ich möchte herausfinden, woher das
kommt.
Die gesellschaftliche Geringschätzung des Alters beschneidet
das Grundrecht aufs Älterwerden
Wie wir mit dem Älterwerden umgehen, wird von vielfältigen
Faktoren beeinflusst. Dabei spielt die öffentliche Meinung der Gesellschaft, die
sich in Politik, Presse, Fernsehen und Radio niederschlägt, eine sehr große
Rolle. Seit die Veränderungen der Altersstruktur in der Bevölkerung
deutlich sichtbar werden, kommt das Alter schlecht dabei weg, denn alle Welt
starrt mit vorwurfsvollen Augen auf die wachsende Anzahl der älter werdenden
Menschen und schont dabei die Jüngeren, die ihren Beitrag, Kinder in die Welt
von morgen zu setzen, zu vergessen scheinen. Zunehmend gelangen
Zukunftsprognosen in die Öffentlichkeit, deren Fazit sehr vereinfacht heißt: Es
gibt zu viele Alte, es gibt zu wenige Junge. Zum Vergleich werden
stets die Zahlen vergangener Jahre herangezogen, die als Zeichen einer gesunden
Mischung von Alt und Jung gelten. Und nun werden zunehmend mehr Menschen älter;
die bekommen den schwarzen Peter, weil ihre verlängerte Lebensdauer zu einem
ungesunden Verhältnis der Generationen beitrage. Solche Aussagen haben Wirkung.
Spätestens beim nächsten Gang durchs Dorf oder durch die Stadt blicke ich durch
eine Brille, die mir ausschließlich ältere Menscher auf der Straße präsentiert
und mich darin bestätigt: Ja, es ist so, es gibt zu viele Alte. Da ich mich zu
der älter werdenden Generation zähle, sagt schnell eine ungute innere Stimme:
Du gehörst zu denen, von denen es zu viele gibt! Es ist dieser Zusatz vor
dem Wort viele, der so sehr belastet. Am Ende fühle ich mich auch noch
voller Schuld, denn im Stillen träume ich von dem neuen Lebensabschnitt. Meine
Fantasie malt aus, was ich als alter Mensch tun möchte, wie mein Alltag aussehen
soll, welche Bücher ich unbedingt noch lesen will oder welches Land ich noch
bereisen möchte. Tief in meinem Inneren lebt eine Sehnsucht nach diesem
Lebensabschnitt, die ich nicht verstecken möchte. Ich will mich doch nicht
schämen müssen, weil ich gerne älter werde! Habe ich nicht ein Recht, diese
Phase meines Lebens zu gestalten?
Älterwerden ist nicht mehr selbstverständlich
In der Auseinandersetzung mit der negativen Stimmungsmache
gegen das Alter wird deutlich, dass das Älterwerden keine selbstverständliche
Sache mehr ist, es vielmehr Wagemut verlangt, zu sagen: Ja, ich möchte alt
werden, bin neugierig, was mir geschehen wird in diesem letzten Abschnitt meines
Erdendaseins. In diesen Worten blitzt etwas auf von dem Abenteuerhaften,
macht das Ungewisse auch etwas Angst, doch treibt eine innere Kraft hin zu
meiner Identität als älter werdende Frau, als älter werdender Mann. Das fällt
mir nicht zu, wird mir nicht geschenkt, muss ich mir erarbeiten. Ja, ich möchte
alt werden, möchte meine Lebenszeit vollständig leben. Es ist mein
Menschenrecht, in Würde alt zu werden. Der graue Panther reckt sein stolzes
Haupt und wehrt sich dagegen, dass das politische Denken in dem Land, in dem ich
lebe, nur noch aus Zahlen besteht. Da wird gestrichen, gekürzt, hinausgeworfen,
und was soeben noch Gültigkeit hatte, ist Schnee von gestern. Der graue Panther
wehrt sich gegen die beängstigenden Gedanken um die Kürzung seiner Rente,
erinnert sich an die Kriegszeit und weiß, ich lasse mir das Alter nicht mies
machen.
Wenn das Alter so verneint wird, ist etwas falsch. Das zeigt
das folgende Beispiel: Eine 90jährige, sehr rüstige Frau wird von einem jungen
Gesprächspartner über ihr Leben gefragt. Offensichtlich meint er, er tue der
Frau weh, wenn er das Wort alt benutzt und redet ständig um den Brei
herum, wirkt unsicher und entschuldigt sich fast dafür, kein geeignetes
Ersatzwort zu finden. In dem Verhalten des Jungen wird konkret, wie sich die
Tabuisierung des Alters auswirkt. Zum Glück übernimmt die alte Frau die
Initiative und bekennt sich klar und deutlich zu ihrem Alter. Sie schlägt keine
sprachlichen Purzelbäume, sondern benutzt das ihren Lebensjahren gemäße Wort
alt.
Alter hat viele Gesichter
Offensichtlich hat das Alter mindestens zwei Gesichter, ein
gutes und ein schlechtes. Mit dem Blick in den Spiegel fängt es ja meist an,
dass natürliche Veränderungen des Gesichtes aufs Älterwerden verweisen. Es gibt
im Leben jeder Frau und jedes Mannes die Momente, bei denen die äußeren Merkmale
des Älterwerdens nicht mehr zu übersehen sind. Da wachsen auf einmal nur noch
graue Haare auf dem Kopf, oder sie sind fast alle ausgegangen. Am Kinn tut sich
auch einiges, denn die Haut verliert ihr bisheriges Aussehen. Falten und Linien
bilden sich. Am Hals ringelt es sich, und ein Doppelkinn wagt sich ins Freie.
Altersflecken breiten sich aus.
Solche Veränderungen sind natürlich, müssen aber heute nicht
sein, denn eine forsche Kosmetikindustrie im Verbund mit Schönheitschirurgen
findet unentwegt neue Möglichkeiten, die äußeren Kennzeichen des Alterns zu
beseitigen. Auch 90jährige können sich deshalb noch mit rabenschwarzen Haaren
präsentieren, um dem natürlichen Alterungsprozess ein Schnippchen schlagen. Es
bleibt heute jeder Frau und jedem Mann überlassen, wie sie als ältere und alte
Menschen aussehen wollen. Sie entscheiden mit an ihrem äußeren Erscheinungsbild,
und stabilisieren dadurch ihre innere Befindlichkeit. Die große Freiheit unserer
Zeit malt die Landschaften des Alters bunt und vielgestaltig. Vorbei sind die
Jahre, in denen sich die ältere Generation uniform in dunkle und gedeckte Farben
kleidete. Im Fotoalbum wirken die Alten früherer Zeiten gesetzt, manchmal
würdig, manchmal aber auch eingezwängt und leblos. Aber der vergangene Brauch
der dunklen Alterskleidung ist vorbei, kann die 90Jährige aus der Farbpalette
auswählen, wonach ihr zumute ist, läuft der alte Mann im neusten Jogginganzug
durchs Seniorenheim.
Wenn in der Innenstadt ein Reisebus seine Ladung Rentner und
Pensionäre ausspuckt, wird schnell sichtbar, dass sich Heerscharen von ihnen in
Mäntel und Jacken in langweiligem hellbeige kleiden. Wo ist da die
Vielfarbigkeit des Alters? Fehlanzeige! Wer weiß, vielleicht helfen die gleichen
Farben dabei, dass sich ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation bildet
und die Identität älterer Menschen stabilisiert.
Das innere Bild des Alters
Beim Abenteuer Älterwerden ist eine wichtige Station
erreicht, wenn ein inneres Bild entsteht, das Auskunft gibt, wie ich mich als
alter Mensch sehe, wie mich die anderen sehen sollen. Auf diesem Weg der
Selbstfindung sind Vorbilder ganz wichtig. Beim Zusammentreffen mit älteren
Menschen begleitet mich oft die Frage: Wer gefällt mir? Wer lebt sein
Älterwerden so vor, dass ich zustimmend nicke und sage: Ja, so kann ich es mir
vorstellen im Alter, so würde ich gerne als alte Frau sein. Diese lebendigen
Vorbilder haben eine wichtige Funktion, denn sie helfen dabei, sich ins
Älterwerden einzuüben, Sicherheit zu gewinnen, um die Angst vor diesem
Lebensabschnitt zu verringern.
Aber an diesem inneren Bild von mir als alte Frau oder altem Mann wirken in
starkem Maße auch die vielen weniger guten Erfahrungen mit alten Menschen mit.
Nein, nie will ich werden wie meine alte Tante, so starr und stur,
ewig miesepetrig. Nichts konnte ich ihr recht machen. So nicht!
Mein Bild vom Alter entwickelt sich im Austausch mit den
alten Menschen meines Umfeldes. Nie will ich werden wie der vergrämte alte
Mann in der Nachbarschaft, der zum Kinderschreck wird, sobald er auf der Strasse
auftaucht, weil er nur böse Worte für sie übrig hat. Schreckbilder des
Alters, die Angst machen, denn wer den alten Griesgram von früher kennt,
schüttelt den Kopf und sagt entschuldigend: Das ist das Alter! Bei vielen
älter werdenden Menschen ist dies die Entschuldigung für Verengungen, die aber
durch diese Festschreibung auch nicht mehr veränderbar sind. Eine solche
Sichtweise vergisst, dass auch im Alter Veränderung in viele Richtungen möglich
sind und nicht monokausal alles zum Schlechten sich wenden muss.
Entwicklungsprozess Älterwerden
Älterwerden ist ein Entwicklungsprozess, der ohne unser Zutun
seinen natürlichen Verlauf nimmt. Jeder hat das Entwicklungsprogramm für diesen
Lebensabschnitt in sich, und wie bei allen Wachstumsschritten sind Kräfte aus
dem Unbewussten daran beteiligt. Am deutlichsten zeigen diese sich in unseren
Träumen, deren Funktion u.a. darin besteht, uns durch das bildhafte Geschehen in
der Nacht auf die Zukunft vorzubereiten. Im Dunkel der Nacht, lange bevor ich
wirklich alt bin, fangen diese Veränderungen an. Wenn ich meine Träume beachte,
erfahre ich etwas von meiner zukünftigen Gestalt. Das ist ein wichtiger Schritt,
wenn ein Traum mich in den Spiegel des Alters blicken lässt.
Ich stehe vor dem Porträt einer schönen älteren Frau. Als ich
sie eingehend anschaue, fällt mir plötzlich ein, das bin ja ich als älter
werdende Frau. So sehe ich dann aus.
Nach einem solchen Traum kreisen die Gedanken ganz von allein
ums Alter. Damit hat der Traum seine Aufgabe erfüllt, er bereitet auf die
Zukunft vor. Das geschieht ganz alltäglich, kommt aus dem Innern, denn jeder von
uns trägt in sich das Gesetz seines Wachstums. In diesem Zusammenhang ist es
ganz wichtig, sich tief einzuprägen, dass im Alter Wachstum nicht aufhört. Es
ist falsch, wenn behauptet wird, Alter sei die Lebenszeit, in der keine
Entwicklung mehr vor sich geht, Alter sei Stillstand, Ruhestand, letztendlich
nur das Warten auf den Tod. Das ist falsch! Wer anfängt, Alter und Wachstum
miteinander in Verbindung zu bringen, schaut zuversichtlich in seine Zukunft und
schüttelt den Kopf über die Ignoranz jener Menschen, für die Älterwerden einem
Loch gleicht, in das sie sich hinein fallen lassen, weil sie resignierend
meinen, Das war’s dann wohl! Von solchen Einstellungen heißt es Abschied
zu nehmen, denn die menschliche Lernfähigkeit hört ja nicht plötzlich auf, nur
weil eine Frau 70 oder ein Mann 80 Jahre geworden ist.
Die beschädigte Seit des Alters
Eine kritische Stimme meldet sich und meint: Das mag schon
sein mit der Lernfähigkeit, dem Wachstum, der Entwicklung, aber in den Alten-
und Pflegeheimen liegen alte Menschen in Betten, sind pflegebedürftig, krank,
hinfällig, erregen Mitleid, weil sie unfähig sind, sich zu bewegen und keiner
von ihnen etwas dafür kann. Ist nicht dies das wahre Gesicht des Alters? Vor dem
habe ich Angst. Es sind nicht die weißen Haare oder die Runzeln im Gesicht, der
langsame Gang, den ich fürchte, nein, es ist die beschädigte Seite des
Altwerdens, wo nicht mehr klar ist, ob überhaupt noch Lebensqualität vorhanden
ist. Davor habe ich Angst, isoliert zu werden im Alter, verlassen zu sein,
abgeschoben ins Pflegeheim, weil ich nicht mehr nach mir selbst schauen kann,
abhängig bin von anderen.
Altwerden hat viele Gesichter. Eines davon ist das
beschriebene. Es erschreckt und verlangt gleichzeitig danach, den Sinn zu
suchen, um zu verstehen, dass Leben so sein kann. Wer am Bett des gelähmten
Vaters sitzt, seine Hand hält, zweimal in der Woche, und das seit drei Jahren,
ausgesetzt den quälenden Fragen, die sich nicht beantworten lassen, der wird
heimgesucht von dunklen Gefühlen. Was für einen Sinn hat solches Leben? Es macht
traurig und gleichermaßen ohnmächtig. Manchmal verabschiedet sich die Besucherin
wieder schnell, kaum hat sie sich ans Bett gesetzt, weil sie es nicht aushält,
ihren Vater so zu sehen. Sie blickt in sein ausgemergeltes und entstelltes
Gesicht, sucht die lieben und vertrauten Züge und findet sie nicht mehr. Der
Vater erscheint fremd.
Fluchtreaktionen beim Besuch im Alten- oder Pflegeheim sind
verständlich. Altwerden ja, aber so nicht! Es bedeutet ein ganz gehöriges Maß an
innerer Arbeit, zu begreifen, dass es einen Bereich des Alterns gibt, an dem
Menschen nicht mitwirken dürfen. Die Macht, welche den Vater zum gelähmten
Krüppel macht, hat nur eine Botschaft zu verkünden: Mensch, es liegt nicht in
deiner Hand. Hilfreich ist es dann, sagen zu können, meine Zeit liegt in Gottes
Hand. Wer alte Menschen auf ihrem Entwicklungsweg in den Tod begleitet, bekommt
eine Ahnung davon, dass jedes menschliche Leben die Tendenz hat, sich zu runden.
Dabei geht es darum, abzuschließen, um gleichzeitig aufzuschließen, denn das
Ende des irdischen Lebens und der Anfang des neuen Lebens gehören zusammen. Oft
ist im Umfeld der zu Ende gehenden Lebenszeit zu hören: Sie ist noch nicht so
weit, sie ist noch nicht so weit zum Sterben, auch wenn die Angehörigen mit
ihrer Kraft am Ende sind. Es bleibt ein großes Geheimnis um die Dauer unserer
Lebenszeit. In das Bild, das ich vom Alter habe, sind ja auch alle meine
Vorstellungen und Wünsche hinsichtlich des Lebensendes hinzugekommen. Leicht
soll es werden, denke ich, und weiß gleichzeitig: es liegt nicht in meiner
Macht.
Das Geheimnis ihrer Lebenszeit war für Menschen immer ein
Gegenstand des Nachdenkens. Das folgende Märchen erzählt humorvoll davon.
Die Lebenszeit (Kinder- und Hausmärchen 176)
Als Gott die Welt geschaffen hatte und allen Kreaturen ihre
Lebenszeit bestimmen wollte, kam der Esel und fragte: „Herr, wie lange soll ich
leben?" – „Dreißig Jahre", antwortete Gott, „ist dir das recht?" – „Ach Herr",
erwiderte der Esel, „das ist eine lange Zeit. Bedenke mein mühseliges Dasein:
von Morgen bis in die Nacht schwerste Lasten tragen, Kornsäcke in die Mühle
schleppen, damit andere das Brot essen, mit nichts als mit Schlägen und
Fußtritten ermuntert und aufgefrischt zu werden! Erlass mir einen Teil der
langen Zeit." Da erbarmte sich Gott und schenkte ihm achtzehn Jahre.
Der Esel ging getröstet weg, und der Hund erschien. „Wie lange willst du leben?"
sprach Gott zu ihm, „dem Esel sind dreißig Jahre zuviel, du aber wirst damit
zufrieden sein." – „Herr", antwortete der Hund, „ist das dein Wille? Bedenke,
was ich laufen muss, das halten meine Füße so lange nicht aus; und habe ich erst
die Stimme zum Bellen verloren und die Zähne zum Beißen, was bleibt mir übrig,
als aus einer Ecke in die andere zu laufen und zu knurren?" Gott sah, dass er
recht hatte, und schenkte ihm zwölf Jahre. Darauf kam der Affe. »Du willst wohl
gerne dreißig Jahre leben?« sprach der Herr zu ihm, »du brauchst nicht zu
arbeiten wie der Esel und der Hund und bist immer guter Dinge." – „Ach Herr",
antwortete er, „das sieht so aus, ist aber anders. Wenn's Hirsenbrei regnet,
habe ich keinen Löffel. Ich soll immer lustige Streiche machen, Gesichter
schneiden, damit die Leute lachen, und wenn sie mir einen Apfel reichen und ich
beiße hinein, so ist er sauer. Wie oft steckt die Traurigkeit hinter dem Spaß!
Dreißig Jahre halte ich das nicht aus." Gott war gnädig und schenkte ihm zehn
Jahre.
Endlich erschien der Mensch, war freudig, gesund und frisch und bat Gott, ihm
seine Zeit zu bestimmen. „Dreißig Jahre sollst du leben", sprach der Herr, „ist
dir das genug?" – „Welch eine kurze Zeit!" rief der Mensch, „wenn ich mein Haus
gebaut habe und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt; wenn ich Bäume
gepflanzt habe, die blühen und Früchte tragen, und ich meines Lebens froh zu
werden gedenke, so soll ich sterben! O Herr, verlängere meine Zeit." – „Ich will
dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen", sagte Gott. „Das ist nicht genug",
erwiderte der Mensch. „Du sollst auch die zwölf Jahre des Hundes haben." –
„Immer noch zuwenig." – „Wohlan", sagte Gott, „ich will dir noch die zehn Jahre
des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht." Der Mensch ging fort, war aber
nicht zufriedengestellt.
Also lebt der Mensch siebzig Jahr. Die ersten dreißig sind seine menschlichen
Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und
freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird
ihm eine Last nach der andern aufgelegt: Er muss das Korn tragen, das andere
nährt, und Schläge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen
die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne
mehr zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn Jahre des
Affen den Beschluss. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt
alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.
Der Spiegel des Märchens zeigt, wie es in der Welt zugeht. Im
Gegensatz zum Menschen gieren die Tiere nicht nach dem langen Leben. Sie sind
sogar mit weniger zufrieden als ihnen Gott zugestehen will, weil sie die Härte
und Mühsal des Lebens kennen. Der Mensch jedoch verlangt nach dem langen Leben
und schachert mit Gott um eine verlängerte Lebenszeit. Ein solches Handeln mit
Gott oder auch dem Tod zeigen viele Märchen. Selten wird von einem Menschen
erzählt, der bereit ist, seine Vergänglichkeit anzunehmen; eher ist es so, dass
um Fristen und Verlängerungen gefeilscht wird. Das Märchen zeigt den Menschen
also nicht ohnmächtig im Angesicht des Lebensendes, sondern aktiv und darauf
aus, noch ein paar Jahre auf der Erde zu ergattern.
Am Ende hat der Mensch die Dauer von 70 Jahren zugesprochen
bekommen. In unserer Zeit verschiebt sich die Lebenserwartung ein gehöriges
Stück weiter hinaus, so dass leicht 80 und mehr Jahre daraus werden können. Mit
deftigem Humor werden nun diese Jahre beschrieben: es gibt die gute menschliche
Zeit, aber früh schon beginnen die Esel- und Hundejahre, wo das Zipperlein
zwickt, der Buckel krumm wird, die Zähne wackeln und ausfallen, durch ein Gebiss
ersetzt werden, die Hüfte oder das Knie ausgewechselt werden muss in der
Reparaturwerkstatt Krankenhaus. Damit ist es aber noch nicht genug, denn nun
kommen die Jahre des Affen, in denen der Mensch nicht mehr Herr seiner Sinne und
seines Verstandes ist. Schwachköpfig und närrisch nennt ihn das Märchen. Wir
sagen heute Alzheimer dazu oder Altersdemenz. Schonungslos konfrontiert das
Märchen mit den Schwächen des Alters und macht den Wunsch nach dem langen Leben
auf einmal fragwürdig.
Beim Abenteuer des Älterwerdens gehört die Auseinandersetzung
mit dem Tod zum schwierigen Teil. Wer angstvoll nur auf sein Lebensende starrt,
vergisst zu leben, aber wer sich im Alltagstrubel die Fragen des Todes von Leib
hält, muss erfahren, dass nichts sein wird, wie ich es will. Und damit wird die
Grenze deutlich, die das Alter mehr als andre Lebensabschnitte immer wieder in
den Blick bekommt. Gleichzeitig kann das Akzeptieren des eigenen Lebensendes ein
großes Maß an Freiheit und Weisheit freisetzen. Nicht von ungefähr ist es diese
Eigenschaft, die am Alter am meisten geschätzt wird.
Die Weisheit des Alters
Unter den vorbildhaften alten Menschen sind einige, denen die
Eigenschaft weise zukommt. Versöhnlich blicken sie auf ihr begrenztes und
unvollkommenes Leben zurück. Mit derselben Gelassenheit schauen sie aber auch in
das zukünftige Leben, das genauso begrenzt und unvollkommen sein darf.
Altersweisheit ist weit entfernt von Besserwisserei und Verhärtung. Nüchtern und
gelassen werden manche Menschen im Alter. Sie wissen, dass menschliches Leben
sich nicht beliebig ausdehnen kann, blicken auf die Spanne ihrer Lebenszeit
zurück, sammeln gleichsam vom Acker ihres Lebens ein, was gewachsen ist. Wohl
der Frau, wohl dem Mann, wenn sie in Frieden ruhen lassen können, was vorbei ist
und zurücklassen, was ihnen auf der Weiterreise hinderlich ist.
Von einer weise gewordenen alten Frau erzählt die schottische
Legende Menschenfischer. Sie sitzt mit ihrem Sohn am Feuer, starrt
versunken in die rote Glut, als er sie fragt, was mit ihr sei. Ach, sagt sie,
alt bin ich, müder werde ich jeden Tag, und die Stunde meiner Stunden ist nahe.
Letzte Nacht rief eine Stimme vor dem Fenster nach mir, die war süß wie ein
Wiegenlied. Darauf schlief ich wieder ein und träumte, Erde wäre auf meiner
Brust und weiße Maßliebchen wüchsen in meinen Augenhöhlen. Und beim Erwachen
hörte ich eine Glocke läuten, und du weißt, dass es in diesem Tal noch nie eine
Kirchenglocke gab. Der Sohn schwieg. Was sollte er sagen? Gott schickt das
Dunkel über die Wolke, und es gibt Regen. Gott schickt das Dunkel über den
Hügel, und es kommt Nebel. Gott schickt das Dunkel über die Sonne, und es wird
Winter. Und Gott schickt das Dunkel über die Seele und sie verlässt diese Welt.
Die Schwalbe weiß, wann sie nach Süden fliegen muss. Der wilde Schwan weiß, wann
es hinter der Sonne nach Schnee riecht. Die werdende Mutter weiß um das Leben in
ihrem Schoß, noch ehe es sich regt. Wie sollte die Seele nicht wissen, wann ihre
Zeit gekommen ist?– Sie, die Gottes Sohn zum Bruder hat und gekleidet ist in
Licht, ist doch mehr als Schwan und Schwalbe.
Ist das nicht etwas arg geschönt? So einfach ist das doch
nicht mit dem Alter und dem Sterben. Solche wunderbaren Geschichten verschweigen
die zentrale Erfahrung des Schmerzes, der dann aufbricht, wenn es zu begreifen
gilt, dass alles Leben auf ein Abschiednehmen-Müssen hinausläuft. Diese Legende
verschweigt, wie weh es tut zu erkennen, dass menschliches Leben auf ein Ende
hinzielt. Wenn es im Requiem von Johannes Brahms heißt Herr, lehre doch mich,
dass ein Ende mit mir habe, mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss!,
dann klingt das schwer und klagend, ist der unerbittlich schlagende Takt der Uhr
zu hören, dem niemand entrinnt. Das tut dem weh, der gerne auf der Welt ist.
Offensichtlich geht es vielen Menschen so, sonst würde der Psalmist nicht so
großen Wert legen auf das Herr lehre doch mich... Aber wann fange ich
damit an, mich mit dieser Aufgabe zu beschäftigen? Beim Nachbarn ins Heft
schauen, wie früher in der Schule, das geht hier nicht. Manchmal denke ich, es
geschieht nachts, wenn der Schlaf nicht kommen will, die Uhr auf dem Kirchturm
schlägt, immer wieder, bis vielleicht ein tröstendes inneres Wort die
Achterbahnfahrt der Gedanken beendet.
Schlafstörungen
Auch dies gehört zum Abenteuer Älterwerden: langes Wachliegen
während der Nacht, quälende Gedanken, welche die dunklen Ecken des Lebens
aufsuchen, negative Bilanz ziehen und klein machen. Gleichzeitig lernen viele
Menschen erst im Alter den Schatz der in der Schule auswendig gelernten
Gedichte, Lieder, Bibelverse und Geschichten kennen und sind froh über ihre
heilsame Wirkung. Vielleicht braucht das Alter einfach weniger Schlaf, um die
Kostbarkeiten des Lebens wach liegend zu erinnern. Stundenlang sich inneren
Bildern überlassen, durch die Landschaften der Seele wandern, staunen über das,
was kommt, ein Gefühl des Glücks spüren, wenn sich die Vielfalt innerer Räume
erschließt. Dann gibt es ja auch die gegensätzliche Erfahrung, in einem Rutsch,
ohne Unterbrechung durchschlafen zu können, bis die Sonne aufgeht. Das wird zum
dankbar entgegengenommenen Geschenk. Früher waren das Selbstverständlichkeiten.
Ja, das nächtliche Wachliegen im älter werdenden Leben übt darin ein, im wachen
Zustand in der Stille der Nacht zu prüfen, was Körper und Seele verlangen.
Tagsüber ist ihre Sprache oft schwer zu verstehen, weil der Alltag sie zudeckt.
Nachts kann keiner ausweichen. Auf diese Weise lehrt das Leben, wo es einmal
lang gehen wird. Ich bin unterwegs und lerne zu hören.
In der Oper Der Rosenkavalier von Richard Strauss gibt
es eine Arie der Marschallin, in der sie sich mit der vergehenden Zeit
auseinandersetzt.
Die Zeit, sie ist ein sonderbar Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts.
Aber dann auf einmal,
da spürt man nichts als sie.
Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel, da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.
Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder,
lautlos, wie eine Sanduhr.
Manchmal hör ich sie fließen – unaufhaltsam.
Manchmal steh ich auf mitten in der Nacht
Und lass die Uhren alle, alle stehn.
Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten.
Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.
In diesen Worten der reifen Frau, die Abschied nimmt von
ihrem jugendlichen Geliebten, rührt sich das Gespür für den Ablauf der Zeit.
Lautlos rieselt der Sand in der Sanduhr, leise tickt die Uhr an der Wand, sagt
es ein Tag dem andern, meldet sich der Wunsch, die Uhren anzuhalten, um der Zeit
einen Riegel vorzuschieben. Anhalten, festhalten, nein, das darf nicht zu Ende
gehen! Es siegt die Einsicht in das Unausweichliche, denn wir müssen uns vor der
Zeit nicht fürchten, gehen aber älter werdend anders mit ihr um als in jungen
Jahren. Damals kümmerte sie nicht, schien sie ohne Ende. Heute jedoch läuft sie
als unsichtbare Begleiterin neben uns. Es ist gut, sie sich zur Freundin zu
machen, denn sie lehrt, was das heißt, in seiner Zeit zu leben. Nur auf
diese Weise erfahren wir die beglückenden Momente, in denen sich die Zeit
gleichsam erfüllt.
Zeit wird kostbar
Gerade weil Zeit so kostbar wird, verlangt sie immer wieder
nach dem Abschiednehmen. Martin Buber sagt: Altwerden ist ein herrliches
Ding, wenn man nicht verlernt, was anfangen heißt. Wie sieht nun dieses
Anfangen im Alter aus? In erster Linie geht es darum, sich nicht in den Trott
des Alltags einzurichten, Gewohnheiten und eingeschliffene Verhaltensweisen zu
hinterfragen. Es gehört Mut dazu zu sagen, nein, das kann ich nicht mehr - oder
nein, das ist mir nicht mehr wichtig. Es gehört Mut dazu, seine Grenzen zu
sehen, andere darauf hinzuweisen, dass es vorbei ist mit dem Bäume-Ausreissen,
dass ich Raum für mich brauche, um nachzudenken, was ich mit ins Alter
hinübernehme.
Früher hatten es die Alten einfacher. Irgendwann war es so weit, dass sie ins
Altenteil umzogen. Die Veränderung der äußeren Verhältnisse machte deutlich, sie
sind nun die Alten, konnten sich stärker von der schweren körperlichen Arbeit
zurückziehen, hüteten die Enkelkinder. Die Rollen waren festgelegt. Aber diese
Zeit ist vorbei. Die Alten von heute müssen diese Lebensphase selber in die Hand
nehmen. Antworten suchen auf die Fragen: Was will ich tun in der mir noch
verbleibenden Zeit? Wo will ich leben? Mit wem möchte ich gerne alt werden? Wie
soll meine Wohnung im Alter aussehen? Woran hängt mein Herz? Auf was kann ich
verzichten?
Trau dich, sagt eine innere Stimme, wage es, gegen den mainstream der
Gesellschaft zu leben - Trau dich und setz dich in den Garten, ohne gleich in
der Erde zu wühlen. Du wolltest doch immer schon deine Lebensgeschichte
aufschreiben. Fang an damit! Was die Leute sagen? Das muss dich nicht mehr
kümmern!
Bertold Brecht hat eine wunderbare Geschichte geschrieben mit
dem Titel Die unwürdige Greisin. Er erzählt von einer über 70jährigen
Frau, die nach dem Tod ihres Mannes eines Tages beschließt, das zu tun, wozu sie
früher nie kam. Ohne Scheu setzt sie sich am hellen Tag ins Kino, geht ab sofort
in die Wirtschaft zum Essen, schließt neue Bekanntschaften zum Schrecken ihrer
Erben und lebt ein total anderes Leben als früher. Und es tut ihr gut, aus den
in vielen Jahrzehnten erstarrten Gewohnheiten auszubrechen. Was kümmert sie der
Kommentar ihrer Kinder?
Die verhärtete Seite des Alters
Diese alte Frau ist aufgebrochen aus ihrem Trott, für sie
werden die Tage wieder spannend, sie fühlt sich lebendig. Neue Menschen treten
in ihr Leben, neue Beziehungen entstehen und machen ihr Leben bunt. Wer rastet,
der rostet, heißt ein Sprichwort, das in besonderem Maße für das Älterwerden
gilt. Lebendig bleiben, neugierig aus dem Fenster schauen, neugierig aber auch
in sich hineinschauen, unter die Leute gehen, auch wenn das Knie schmerzt beim
Treppensteigen. Und wenn die Schmerzen zu schlimm sind, zuhause bleiben, mir
Gutes tun, heute bin ich mein Gast, bewirte mich und lasse mich anregen von mir.
Wer rastet, der rostet. Jeder Rheumakranke lernt diese Weisheit des Alters zu
spüren und weiß, dass ihn nur die Bewegung vor der Gefahr der Erstarrung
schützt.
Damit bin ich bei einem Kapitel des Abenteuers Älterwerden,
mit dem ich große Mühe habe: Es ist die Tendenz des älteren Menschen zum
Altersstarrsinn. Solche Menschen haben sich eingerichtet in
fertige Meinungen, denken stur weiter, was sie immer schon gedacht haben und
gebrauchen meist die gleichen Worte. Früher war alles besser, die Jungen
heute, die taugen doch nichts, die sollen erst mal das schaffen, was ich
geschafft habe, dann können sie mitreden. Die sollen sich die Hörner abstoßen!
Und die heutigen Politiker taugen alle nichts, und dass es zu viele Ausländer
gibt, davor hab ich schon vor Jahrzehnten gewarnt ... Oft klingen solche
Worte böse, denn diese Alten sind verbittert und vom Leben enttäuscht, haben
sich eingerichtet im Haus ihres Alters, wagen aber nicht, den Blick auf ihre
Schwächen, Verletzungen und Ängste zu richten. Es sind vereinsamte Menschen, die
dumpf vor sich hin leben, weil sie nur noch auf das Ende warten. Das
schottisches Märchen Der seltsame Besucher erzählt von so einer alten
stehengebliebenen Frau.
„Eine alte Frau saß an ihrer Haspel bei Nacht, saß am Feuer
und wand und wand das Garn, und die Zeit war so lang, und sie wünschte sich
sehr: Ach, käm mich doch einer besuchen. Da kamen zwei Füße zur Tür herein, groß
waren die und breit, und sie bleiben beim Feuer stehn. Und die Frau wand das
Garn, und die Zeit war so lang: Ach, käm mich doch einer besuchen! Da kamen zwei
Beine zur Tür herein, klein waren die und mager, und sie sprangen auf die
breiten Füße. Und die Frau wand das Garn, und die Zeit war so lang: Ach, käm
mich doch einer besuchen!" So geht es weiter, die Alte wartet und wartet und
wartet, was da kommen mag, wer sie wohl besuchen käme. Doch der einzige, der wie
von selbst kommt, ist der Sensenmann, der Tod. Er kommt nur, um sie zu holen.
Offensichtlich sind diese starren Alten nicht mehr fähig zu
geben. Längst haben sie sich und die Welt aufgegeben, verbreiten ein depressives
Gefühl, wenn sie brummig und missmutig am Fenster hinterm Vorhang sitzen und
sich vom Fortgang des Lebens abschotten. Im Dorf oder im Stadtviertel zeigen sie
sich nur, um Gift und Galle zu verspritzen. In ihrer angstbesetzten Welt lauern
überall nur Missgunst und Erbschleicher, die es auf ihr Geld abgesehen haben.
Diese Seite des Alters kennt nichts Gutes. Sie ist egozentrisch und eiskalt. Es
scheint, als ob diese starren Greisinnen und Greise bereits auf der Erde zu
Toten geworden sind.
Die Gabe der Erinnerung
Der abenteuerliche Weg Älterwerden geht auf und ab, berührt
helle und dunkle Stationen, konfrontiert mit Verlusten, aber auch mit großen
Gewinnen. Dazu gehört die Gabe der Erinnerung, welche in dieser Lebensphase eine
ganz besonders wichtige Rolle spielt. So wie der erste Pickel auf der Nase die
beginnende Pubertät ankündigt, so verweist das gesteigerte Bedürfnis nach
Erinnerungen auf ein Kennzeichen des Älterwerdens. Auf einmal erwacht ein
Bestreben, sich seiner früheren Taten und Erlebnisse immer wieder zu
vergewissern, sie immer wieder zu erzählen. Immer wieder sich bewusst machen,
dass ich auch als alter Mensch das Kind oder den jungen Mann von einst in mir
habe, d.h. ich kann in der Erinnerung ohne Mühe durch die Straßen meiner
Kindheit hüpfen oder noch einmal zur Tanzstunde gehen. Nichts ging verloren,
denn das Vergangene des Lebens steckt im Speicher der Erinnerung, wie auf der
Festplatte des Computers. Ohne große Anstrengungen steigen Erinnerungen auf,
führen in ein vergangenes Kapitel meines Lebens, färben die Gefühle, tun gut,
manchmal auch nicht, halten lebendig. Älter werdende Menschen sind in starkem
Maße das, was sie erinnern. Deshalb ist es so wichtig, die Schatztruhe der
Erinnerungen immer wieder aufzuschließen und dabei auf Menschen zu treffen, die
Antwort geben auf die Frage Weißt du noch? Weißt du noch, wie wir im
Luftschutzkeller saßen und die Bombentreffer gezählt haben? Weißt du noch, wie
der erste Kaugummi nach dem Krieg geschmeckt hat? Weißt du noch, wie sich der
steife Petticoat unterm Rock’n’roll-Kleid angefühlt hat?
Wenn die Gedanken den Wegspuren meines Lebens folgen, die
unangenehmen Ereignisse und Taten nicht umgehen, das Helle und das Dunkle
berühren, die Freude und die Trauer eines Lebens sich melden darf, webt sich ein
Teppich durch die Jahre des Älterwerdens, dessen Muster Antwort gibt auf die
Frage nach dem Sinn des Lebens. Erinnern ist eine geistige Tätigkeit, die mit
Lebensenergie gefüllt ist und eine heilsame Wirkung hat. Dieses Zurückgehen, um
ins Bewusstsein zu heben, was einmal war, begünstigt das Wachstum der eigenen
Identität als alter Mensch. Erinnern trägt zur Selbstfindung bei.
Jedes Gespräch mit Gleichaltrigen rückt das Vergangene in einen neuen Kontext.
Eine Chronologie des Lebens entsteht, sie vermittelt Kontinuität und begünstigt
die Bildung einer inneren Struktur, welche die Fragmente der Erinnerungen immer
wieder neu ordnet.
Vermehrt meldet sich der Wunsch, zurück zu den Wurzeln meines Lebens zu gehen,
um mich mit dem, was schwer war, zu versöhnen, Konflikte mit Geschwistern oder
Verwandten, den alten Eltern zu bereinigen. Endlich reinen Tisch machen! Alte
Streitereien überwachsen! Der Wunsch, ohne Groll mit einem liebevollen Blick auf
die Vergangenheit schauen zu können, lässt manchen Graben verschwinden. Wenn
dies gelingt, fließt die Kraft der Erinnerung ungehindert in die Gegenwart
hinein und sorgt für ein kraftvolles Leben auch im Alter.
Sich selber finden im Alter ist eine Erfahrung des
Glücks
Dann bin ich ganz bei mir zuhause. Die Tür zu den vergangenen
Abschnitten meines Lebens kann ich öffnen, wann ich will. Ich habe ungehinderten
Zugang zu mir selbst. Das ist eine gute Erfahrung. Wer älter wird, nicht vor
sich selber davonläuft, darf sich einholen und sich selber lieben, wie er ist.
Diese Selbstliebe hat nichts mit Egoismus zu tun, denn sie will sich verströmen,
weil sie eine der wesentlichen Kräfte des Lebens ist und unter die Menschen
will. Diese Erfahrung baut meinen Standpunkt in der Welt auf einen guten Boden.
Ja, ich lebe, und es ist gut, dass es mich gibt!
Wohin mit den Alten?
Bei aller Freude, sich im Alter zu finden, werden ältere
Menschen schmerzhaft darauf gestoßen, dass sie nicht allein auf der Welt leben.
Der Generationenvertrag zwischen Alt und Jung muss neu definiert werden, denn
jede Generation muss sich neu mit dem Alter und den Alten auseinandersetzen.
Wenn heute darüber geklagt wird, das Maß aller Dinge sei No aging, dann
wird schnell vergessen, dass auch in früheren Zeiten das Verhältnis zwischen
Jung und Alt nicht harmonisch war. Bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten tauchte
immer die Frage auf: Was tun mit denen, die keine Leistung mehr bringen, den
Alten? Für die älteren Menschen, die nach vielen Jahren voller Arbeit aus
dem Arbeitsprozess ausgeschieden sind, bedeutet eine solche Frage eine tiefe
Verletzung ihrer Würde. Es ist ein Frontalangriff auf ihre Identität und löst
tiefe Existenz-Ängste aus, denn wenn zu den körperlichen Gebrechen des Alters
noch die unausgesprochenen Vorwürfe Warum stirbst du nicht endlich?
kommen, dann sieht es duster aus für die Alten in der Gesellschaft. Ihr
Grundrecht auf Leben wird unterminiert. Von der Wertschätzung der Alten ganz zu
schweigen. So pendelt das Verhältnis zwischen Jugend und Alter zwischen
Ablehnung und Verehrung hin und her.
In Notzeiten oder wenn Krieg und Hungersnot war, gab es in
archaischen Kulturen den Brauch, die Alten zu töten oder auszusetzen. In vielen
Märchen findet sich dieses Motiv der Altentötung. Allerdings werden diese
Geschichten nicht erzählt, um Angst und Schrecken vor den Alten hervorzurufen,
sondern um auf den Wert des Alters hinzuweisen, z.B. im portugiesischen Märchen
Werft die Alten hinaus oder in einem anderen mit dem Titel Die
Ermordung der Greise. Als es mal wieder so weit ist, die staatliche Macht
befiehlt, die Alten in die Berge oder ins Tal des Todes zu bringen, weigert sich
ein Sohn, seinen alten Vater, den er liebt, auszusetzen und versteckt ihn. Damit
macht er sich strafbar, denn er verstößt gegen das Gesetz des Königs. Aber der
König gerät selber in große Not, denn er kann nicht mehr schlafen und wird
nachts von einem Dämon, der durchs Fenster bricht, gequält. Er will nun
demjenigen, der ihn von diesem Dämon befreit, einen Wunsch erfüllen. Der
versteckte alte Vater hört davon und schickt seinen Sohn zum König. Dieser gibt
ihm den Rat seines Vaters und damit wird der Dämon überwunden. Der junge Mann,
nach seinem Wunsch gefragt, bittet den König, die Alten zukünftig nicht mehr
auszusetzen. Der König erkennt, dass man die Alten braucht. Seitdem, so heißt es
am Ende der Geschichte, behält man die alten Menschen im Land.
In einer Variante des Märchens trägt der Sohn den alten und
gebrechlichen Vater aus der Siedlung heraus ins Tal des Todes. Unterwegs fängt
der alte Mann plötzlich zu lachen an und will nicht aufhören. Er lacht und
lacht, denn er erinnert sich daran, wie er vor vielen Jahren auf demselben Hügel
mit seinem Vater gerastet hatte, auf dem er sich nun mit seinem Sohn
befindet. Sein Lachen und seine Worte lassen den Sohn umkehren.
Zweifelsohne ist es die gute Vater-Sohn-Beziehung, welche die
alten Menschen rettet. Alle Märchen dieser Art singen ein Loblied auf die beide
Generationen verbindende Liebe. Stets ist unter den Jungen einer, der in innerer
Zwiesprache mit seinem Vater lebt und auf diese Weise das Land rettet vor den
Auswirkungen einer falschen Altenpolitik.
Die Herausforderung für die Jungen
Herausforderungen übersteigen das Maß des Üblichen, verlangen
nach besonderen Anstrengungen. Nicht jeder hört den Ruf der Herausforderung,
verschließt sich oder schaut weg. Wie sehen die Herausforderungen für die Jungen
aus? Sie sind vielfältig, und die Märchen von der verhinderten Altentötung
zeigen das mutige Verhalten eines Vertreters der jungen Generation, das Antwort
auf eine Herausforderung gibt. Er bekennt sich zu seinem alten Vater, riskiert
viel, denn er handelt gegen den üblichen Brauch, setzt sich ab von dem, was man
tut in seiner Generation und zeigt Zivilcourage und Charakterstärke.
Wo gibt es heute Herausforderungen für die Jungen im Hinblick
auf das Älterwerden? In der Öffentlichkeit wird das Schreckbild des Alterns
dokumentiert, so dass der Eindruck entsteht, die meisten alten Menschen werden
in Pflegeheimen und Altersheimen endgelagert, dämmern dement vor sich hin und
verursachen eine Menge Kosten. Viel zu wenig wird über alternative Formen des
Zusammenlebens von Jung und Alt berichtet. Viel zu wenig wird anerkannt, wie
groß oft die finanziellen Unterstützungen der Jungen durch die Alten waren oder
noch sind. Wer als Familie mit Kindern die Begleitung von älteren
Familienmitgliedern bewusst geht, dies nicht als Opfer ansieht, das
ausschließlich durch Geld wett gemacht werden muss, der lässt sich auf ein neues
Terrain des Lebens ein und profitiert durch einen Zuwachs an Menschlichkeit und
Lebenserfahrungen.
Ob Kinder in die Welt zu setzen eine Herausforderung ist? In
der Tat, Kinder sind nicht mehr selbstverständlicher natürlicher Bestandteil des
Lebens. In manchen Strassen sind keine Kinder mehr zu sehen. Wenn es an Kindern
mangelt, dann ist das eigentlich ein Hinweis auf einen Notstand. Eine
kinderfeindliche Gesellschaft, in welcher der ganz natürliche Vorgang nicht mehr
üblich ist, Kinder in die Welt zu setzen, die Unbequemlichkeiten und die
Verantwortung nicht zu scheuen, dafür aber sich ausprobieren in der Rolle als
Vater oder Mutter, zu wachsen und sich zu entwickeln mit den eigenen Kindern.
Vor dieser Herausforderung schrecken viele Junge heute zurück. Schwer haben es
dann die älter werdenden Eltern, die sich danach sehnen, Großeltern zu werden,
Nachkommen zu haben.
Freuden des Alters
Was gehört zu den Freude-Erfahrungen der älter werdenden
Menschen? Wo überhaupt finden sich alte Menschen, die ihre Freude zeigen?
Zunächst fallen ja die vielen griesgrämigen Alten auf, die nur von ihren
körperlichen Beeinträchtigungen erzählen und darüber klagen, dass alles
schlechter geworden ist. Aber es gibt sie, die frohen Alten. Es gibt Frauen und
Männer, die sagen, erst im Alter bin ich ein fröhlicher Mensch geworden.
So viel wie heute habe ich in meiner Jugend nicht gelacht. Ja, es
gibt die Freude des Alters! Aber da Ältere ihre Freude anders zeigen als die
Jungen, muss man genau hinhören und genau schauen, denn sie posaunen sie nicht
lautstark in die Welt hinaus, tragen sie aber im Gesicht, hinter Lachfältchen.
Die Freude strahlt aus ihnen heraus, blitzt in den Augen auf, umspielt die
Mundwinkel, verändert ihre Mimik und ihre Gesten. Liebevoll wirken diese alten
Menschen. Im wahrsten Sinne des Wortes sind sie voll Liebe, und da sich Liebe
nicht verstecken kann, sondern unter die Menschen und in die Welt will, breitet
sie sich aus. Wer in Kontakt kommt mit einem liebevollen Alten, der wird
berührt, angesteckt, bewegt und wundert sich, wieso diese froh sein können -
trotz ihres Älterwerdens, trotz der Abnahme ihrer Lebenszeit, trotz der vielen
Verluste, Abschiede und mühseligen Neuanfänge.
Im Gespräch mit einem dieser gütigen und frohen alten Männer
hatte ich den Eindruck, sein Leben sei nicht einfacher oder leichter verlaufen
als das anderer. Aber es scheint, als ob alle schweren Widerfahrnisse ihm nicht
geschadet haben, weil seine Lebenszuversicht sie wie eine unsichtbare Schutzhaut
umgab. Dieses Vertrauen ins Leben macht ihn froh, und diese Freude geht tiefer
als das Leid. Es scheint, als ob ihm auch die Schicksalsschläge noch zum besten
dienen. Geht das mit rechten Dingen zu? Ja, dahinter steckt kein Hokuspokus,
sondern das Vertrauen in die Wandlungskräfte des Lebens. Nichts bleibt wie es
ist. Der Morgen ist klüger als der Abend zuvor. Nicht gleich mit dem Schlimmsten
rechnen. Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, dann kommt von irgendwo ein
Lichtlein her. Vielleicht stimmt der Satz ja doch: Denen, die Gott lieben,
sollen alle Dinge zum besten dienen! Alle Dinge? Auch die schweren? Wie soll das
gehen?
Weißt du, sagt so eine alte Frau zu mir, früher hatte
ich immer zu viel vom Leben gefordert. Wenn es hart auf hart kam, habe ich die
Zähne zusammen gebissen und gekämpft. Ich wollte die Schwierigkeiten wegräumen,
hatte keine Geduld, konnte das Dunkel nicht ertragen. Heut spüre ich, wie im
Dunkel bereits das Licht steckt, auch wenn ich es noch nicht sehe. Und wenn
harte Tage zu durchleben sind, dann hadere ich heute nicht mehr. Ich weiß, es
wandelt sich! Ich schicke mich drein. Und das macht mich froh, dass ich mich als
alte Frau in mein Leben, wie es ist, schicken kann. Das ist eine große
Erleichterung, sich nicht mehr verkämpfen zu müssen! Weißt du, sagt die
alte Frau, ich bin eigentlich ein Spätzünder und erst jetzt komme ich zu mir. An
manchen Tagen bin ich ganz in mir, das macht mich ruhig, und ich fühle mich sehr
frei. Mit dieser Freiheit blicke ich jeden Tag zurück auf mein Leben, gewinne
immer wieder neue Einsichten, wie das war mit mir, als ich jung war, und wie ich
die alte Frau geworden bin. Jeder Tag ist spannend, und wenn ich von einer Reise
zurück komme, dann fängt nicht die große Langeweile an. Nein, dann beginnen
meine inneren Reisen. Da gibt es keine Grenzen. Und wenn mich Ängste heimsuchen,
ob ich leiden muss vor dem Sterben, ob mein Geld reicht, ob es noch Menschen
geben wird, die an mich schreiben, die mich kennen, dann spüre ich auch die
guten Gegenkräfte, die mich aus der Angst reißen, so dass ich wieder froh sein
kann.
Abenteuer Älterwerden. Was bleibt noch nach diesem langen
Weg? Vor allem dies: Es gibt kein Ende. Immer steht noch etwas aus. Immer kommt
noch etwas. Und immer noch liegt etwas brach in mir. Immer wieder den Acker
meiner Seele bestellen. Was gewachsen ist, umsorgen und pflegen. Was verblüht
ist, vergehen lassen. Mich an den Früchten freuen. Und immer wieder mit der
Hacke in der Hand mich der Erde zuwenden. Umgraben, säen, warten, bis die Saat
aufgeht. Immer liegt noch etwas brach in mir.
Literatur:
Heindrichs, U. und H.A.: Alter und Weisheit im Märchen – Forschungsberichte
aus der Welt der Märchen, München 2000
Hillman, J.: Vom Sinn des langen Lebens, München 2000
Scherf, W.: Das Märchenlexikon, 1995