|
|
Ängste sind nicht gern gesehen. In der Liste der bevorzugten
Gefühle stehen die positiv besetzte Freude, die Hoffnung und Zuversicht an
erster Stelle. Am traurigen Ende erhält die Angst ihren Platz -und der wird ihr
oft noch streitig gemacht. Sobald Angst auftaucht, wird sie unter den Teppich
gekehrt. Da sie aber zu den wichtigen Gefühlen gehört, zeigt sie sich trotzdem,
drängt sich auf, beeinflusst Stimmungen und macht auch nicht Halt vor den Räumen
und Plätzen, in denen wir uns aufhalten. Du brauchst keine Angst zu haben? Fast scheint es so, als ob der Umgang mit Angst schwer zu
lernen ist. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn Menschen sich
Strategien zur Angstvermeidung angewöhnen und diese auch im Umgang mit Kindern
weitergeben. Doch das führt unweigerlich in eine Sackgasse. Generationen von
Kindern wurden durch die gut gemeinten Worte der Erwachsenen »Du brauchst keine
Angst zu haben!« getäuscht. Die Sichtweise des Kindes wurde ignoriert, wodurch
die Angst sich als diffuses Gefühl in seinem Inneren ablagerte. Warum gebrauchen
viele Erwachsene diesen Satz auch heute noch? Irgendwie geht er so leicht über
die Lippen und klingt so vertraut. Vielleicht ist er ja gar nicht so falsch? Was
drückt er denn eigentlich aus? Angst gehört zum Leben der Kinder In keinem anderen Lebensabschnitt wird so viel Neues gelernt
wie in der Kindheit. Unablässig erweitert ein Kind seine Aktionsräume. Mutig
entdeckt und forscht es, macht keinen Halt vor dem hohen Baum, steigt so hoch
wie noch nie, spürt Angst, zögert, überlegt: soll ich weitersteigen oder
umkehren? Vielleicht klettert es runter und sagt: »Weiter trau ich mich noch
nicht. So weit oben krieg ich Angst!« In diesen Worten drückt sich seine neu
erworbene Fähigkeit aus, Angst- und Gefahrensituationen einzuschätzen. Angsthasen und Supermänner brauchen wir nicht Jedes Kind bringt seine spezifischen Ängste mit in die
Kindertageseinrichtung. Manche Kinder können frei darüber sprechen, andere
verarbeiten sie im Spiel oder malen sie in ihre Bilder hinein. Solange die
Energie der Angst im Fluss ist, gibt es keine Blockaden. Seit einigen Tagen weigert sich der vierjährige Tom, alleine auf die Toilette zu gehen. Es bleibt nicht aus, dass er ab und zu in die Hose macht, sich schämt und andere Kinder die Erzieherin auf den Stinker aufmerksam machen. Tom wirkt bedrückt, besteht darauf den Raum nur an der Hand der Erzieherin zu verlassen. Dieser wird die Sonderbehandlung nach einigen Tagen zu viel und sie spricht mit ihm unter vier Augen. Tom erzählt: »Auf dem Gang zum Klo sitzen schwarze Monster, die wollen mich packen.« Seine Sprechweise ist abgehackt, er wirkt erregt, seine Augen vermeiden den Blickkontakt mit der Erzieherin. Die Angst steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die Angst vor dem Dunklen tritt bei Kindern in Toms Alter häufig auf. Seit der Junge in der Kindertageseinrichtung ist, hat sich sein Aktionsrahmen vergrößert. Seine sprachlichen Fähigkeiten sind gewachsen, seine sozialen Beziehungen haben sich erweitert. Bei all diesen Entwicklungsschritten mischen aber Ängste mit. Die dunkle Ecke auf dem Gang wird zum äußeren Ort für die Angst. Die Fantasie des Kindes malt Monster, Geister, Gespenster, Zombies als Abbilder seiner Angst in das Dunkel. Da sein kindliches Bewusstsein magisch geprägt ist, leben an dem dunklen Ort für ihn wirklich hässliche und bedrohliche Gestalten. Diese Projektion ist ein ganz natürlicher Vorgang im Umgang mit Angst, die man bei Erwachsenen ebenso findet. Raus aus der Angstecke Eine weitere Form kindlicher Angst findet sich in der Geschichte mit Tom: Schamangst und Versagensangst. Beide hängen eng zusammen und können Kindern das Zusammenleben in der Gruppe erschweren. Diese Sozialisationsängste erlebt ein Kind mit einem Gefühl des Ungenügens. Es findet sich im Gegensatz zu den anderen nicht o. k., erlebt sich als Versager und wird immer wieder ausgelacht. In der Rangordnung der Gruppe steht es am unteren Ende. Schlimm ist es, wenn ein Kind sich dort auf Dauer einrichten muss. Das darf auf keinen Fall geschehen. Deshalb heißt die Parole: Raus aus der Angstecke!
Auf die Erlebnisebene des Kindes sich begeben und seine spezifische Form der Angst ernst nehmen. Mit dem Kind beispielsweise zu den Gespenstern hingehen, den Ort der Angst gemeinsam aufsuchen, mit den Monstern reden, mit ihnen im Rollenspiel agieren. Das Kind aus der Position des Außenseiters befreien. Da Angst eine isolierende Funktion innerhalb der Gemeinschaft hat, will niemand mit dem Angsthasen oder Stinker spielen. Das Kind gerät unter großen inneren Druck, kann zum schwarzen Schaf werden und leidet. Ein offenes Gespräch mit der Kindergruppe führen. Werden diese auf der Symbolebene angesprochen, sind sie schneit bereit, ihre Lösungen im Umgang mit Gespenstern zu erzählen. Da Kinder am liebsten von Kindern lernen, übernimmt Tom die Lösungsstrategie des stärksten Jungen in der Gruppe: Ab sofort singt er laut; wenn er zum Klo geht. Mit seiner Stimme verjagt er die Monster; aus dem Angsthasen ist ein Supermann geworden. Werden Angst-Erfahrungen innerhalb der Gruppe geteilt, kann sich auch die kreative Funktion der Angst zeigen. Sie weckt spielerische Ideen und verändert dadurch ihr bedrohliches Gesicht. Die Kinder der Gruppe machen Toms Angst zu ihrem Anliegen. Jeder malt ein hässliches Monster, und die Bilder werden an der dunklen Ecke vor dem Klo aufgehängt. Auf einmal wird der Gang aufs Örtchen durch eine Monstergalerie bereichert! Da Scham-Angst bei Kindern sehr häufig auftritt, ist es für das Zusammenleben in einer Kindergruppe sehr förderlich, von Zeit zu Zeit dieser emotionalen Erfahrung Raum zu geben. Die Erzieherin fängt an, eine Geschichte zu erzählen: Der kleine Fuchs kam weinend zu seiner Mama in den Bau und sagte: Die lachen mich immer aus... Kinder lieben es, sich mit Tieren zu identifizieren und steigen bei solchen Fortsetzungsgeschichten schnell ein, erzählen weiter, folgen der Spur ihrer Fantasie. Auf diese Weise fassen sie ihre verschiedenen Scham-Erfahrungen in Worte, erleben Solidarität und Entlastung. Solche spielerischen Formen des Umgangs mit angstbesetzten Inhalten sind Balsam für die kindliche Seele, tragen zur Psychohygiene in einer Kindergruppe bei. Verlassenheits- und Trennungsängste Veränderungen im Leben eines Kindes machen unsicher. Sobald
die gewohnte Kontinuität unterbrochen wird, sich das häusliche Umfeld verändert,
sei es durch Krankheit, Scheidung oder andere Risiken des Lebens, tauchen bei
Kindern Verlust- und Trennungsängste auf, die ihr Verhalten einschneidend
verändern können: Milenas Mutter ist über viele Wochen im Krankenhaus. Das Kind
wird von der Großmutter und vom Vater gut versorgt. Eigentlich könnte alles in
Ordnung sein, doch das Gegenteil ist der Fall. Das ehemals ausgeglichene Mädchen
hat sich in ein umtriebiges und hyperaktives Kind verwandelt. Allen fällt es
schwer, diese Nervensäge auszuhalten. Milena steht unter Hochspannung. Die Angst
um die Gesundheit der abwesenden Mutter versetzt sie in ständige
Alarmbereitschaft. Seit sie bei einem Besuch zugesehen hatte, wie ein
Verstorbener aus dem Nachbarzimmer der Mutter gebracht wurde, kann sie abends
nicht mehr einschlafen. Die Angst, die Mutter könne auch sterben, hat sie
gepackt. Unentwegt spricht sie über das Sterben, erschreckt die Erzieherin, denn
was soll diese dem Kind antworten, als es sagt: »Wenn meine Mama stirbt, will
ich auch sterben!«
Wenn Kinder existenzielle Fragen stellen, neigen Erwachsene dazu, erklärende Reden zu halten. Oft wendet sich das Kind dann ab. Besser ist es, die Frage des Kindes langsam zu wiederholen. Dann kann es geschehen, dass das Kind die Frage modifiziert oder die Frage hinter der Frage findet. Erwachsene können das Kind bestätigen: »Das ist eine gute Frage.« Damit gibt man dem Kind zu verstehen, ich nehme dich ernst: »Du, da muss ich noch drüber nachdenken.« Erwachsene dürfen auch ehrlich sein: »Ich weiß keine Antwort. Aber vielleicht fällt dir noch eine ein.« Weinen löst die Anspannung In der Puppenecke spielen einige Mädchen wochenlang
Krankenhaus. Milena übernimmt die Rolle der Krankenschwester - das will sie
werden, wenn sie groß ist. Diese Spiele entspannen das Mädchen, denn sie geben
ihr die Möglichkeit, aktiv am Geschehen Krankenhaus mitzuwirken. In der Realität
ist sie davon ausgeschlossen, aber im Spiel kann sie Einfluss nehmen, handeln,
die kranke Mutter gesund pflegen. Doch es dauert noch, bis das Kind die
Trennungs- und Verlassenheitsangst überwunden hat.
Hilfreich sind alle Formen des Zusammenseins, die den schützenden Rahmen, Vertrauen und Nähe wieder erlebbar machen. Am schnellsten geschieht das durch Kreisspiele. Spielend verwandelt sich die Energie der Angst. Auch das Reime-Sprechen hat eine ordnende und zentrierende Kraft. Kinder lieben Reime, weil ihr Schema die Wiederholung des Bekannten garantiert. Der Rhythmus des Vorhersehbaren tut gut, und beim Nachsprechen sind die Kinder eingebunden in die Struktur des Reimes und werden von seiner Melodie weiterbewegt. Die sensiblen Zeiten des Übergangs Die heutige Pädagogik hat für den Eintritt in die
Kindertageseinrichtung und für die Einschulung Übergangsrituale entwickelt, um
die Ängste des Kindes aufzufangen. Doch sind diese Abläufe keine Garantie dafür,
dass jedes Kind selbstverständlich seine Verlust- und Trennungsängste
überwindet. Das Sich-Lösen aus der Familie, um offen auf die Erzieherin
zuzugehen, ruft Trennungsängste wach. Manche Kinder fallen zurück in
kleinkindliches Verhalten, klammern sich zuhause an die Bezugspersonen, werden
aggressiv, machen wieder in die Hose, fallen in ihre Babysprache zurück. In
dieser Zeit muss das Kind viel Neues lernen. Deswegen braucht es eine intensive
und wahrnehmende Begleitung. Seine Angst, verloren zu gehen, kann dazu führen,
dass es von zuhause oder von der Kindertageseinrichtung wegläuft. Das tut es
nicht bewusst, sondern es wird von der Angst getrieben, ein verlassenes Kind zu
sein. Es erlebt sich als verloren und hält dem Erwachsenen einen Spiegel vor.
Angst vor der Scheidung der Eltern Die Angst, die Eltern könnten sich trennen, lässt den Boden der kindlichen Existenz wanken. Ein Kind, das die Scheidung seiner Eltern durchleidet, ist auf die Kindertageseinrichtung besonders angewiesen. Sie stellt das Kontinuum in seinem sich verändernden Leben dar. Da Scheidungsprozesse meist über längere Zeit laufen, passiert es schnell, dass die davon betroffenen Kinder vergessen werden, sobald die akute Phase vorbei ist.
Kleine Gesten im Alltag, die dem Kind zeigen, meine Erzieherin weiß um meinen großen Schmerz. Den Mut haben, im Stuhlkreis über Scheidungserfahrungen der Kinder zu sprechen. Hier wird sichtbar, wie gut Kinder sich gegenseitig helfen können. Die Erfahrung der Solidarität baut Angst ab und fördert den Zusammenhalt einer Gruppe. Auf das ängstliche Kind zugehen oder abwarten? Die Erzieherin hat von der Trennung der Eltern gehört und weiß nicht, wie sie sich dem Kind gegenüber verhalten soll. Ist es richtig, wenn sie es auf diesen unangenehmen und angstbesetzten Inhalt anspricht? »Ich will dem Kind doch keine Angst machen!« lautet ein Grundsatz, der das vermeintliche Wohl des Kindes im Auge hat. Soll man warten, bis das Kind von sich aus darüber spricht? Nein. Hier handelt es sich nur wieder um den Wunsch der Erwachsenen, die aufgrund ihrer eigenen Unsicherheit auf den Impuls des Kindes warten.
Wenn sich Kinder emotional schlecht fühlen und Angst haben, dann entspricht es nicht ihrem Verhaltensrepertoire, beim Erwachsenen Rat zu holen. Der Erwachsene sollte seine Unsicherheit überwinden und nicht rationalisieren. Behutsame Worte sind weder Zugriff noch gewaltsames Eindringen in das Innere des Kindes. Es ist falsch zu meinen, das Angesprochen-Werden auf
einen unangenehmen Sachverhalt vergrößere die Angst des Kindes. Das
Gegenteil ist der Fall. Oft warten die Kinder sehnsüchtig darauf, dass
der Erwachsene sie anspricht. Kommt der Krieg auch zu uns? Die politischen Veränderungen der letzten Monate haben zu einem Ansteigen von Angst innerhalb der Gesellschaft geführt. Plötzlich wird bewusst, dass die Welt nicht verlässlich ist, sondern voller Risiken steckt. Die Attentate von New York, die Selbstmordattentate in Israel und Erfurt fuhren an Grenzen des Verstehens. In vielen Kindertageseinrichtungen wird nun die Frage diskutiert, ob man Kinder vor diesem Blick in die Welt schützen soll?
In Zeiten, in denen bedrohliche Nachrichten durch die Medien gehen, brauchen Kinder klärende Gespräche. - Erwachsene sollten dabei aber keine komplexen Zusammenhänge erklären. Kinder lernen sehr früh, dass Sprache Angst vertreiben kann. Worte können Halt, Sicherheit und Schutz geben. Es ist gut, wenn Kinder sich nach existenziellen Erfahrungen an den Händen fassen können, sich körperlich spüren. Das baut Angst ab. Manchmal wollen sie dann den gestorbenen Menschen gute Wünsche zuschicken, ein Gebet sprechen, oder sie malen Bilder und lassen diese an Luftballons zum Himmel steigen. Solche Gesten helfen Ereignisse zu verarbeiten, die Angst auslösen. Wer mit Kindern Ängste teilt, trägt dazu bei, dass sich in ihrem Inneren schützende und bergende Kräfte aktivieren. Sie führen zu den Helfergestalten des Märchens und zum Schutzengel. Ihre Botschaft an das Kind heißt: Du kannst dich auf das Leben einlassen.
|
Senden Sie E-Mail mit Fragen oder Kommentaren zu dieser
Website an Webmaster:
flor@online.de
|