An meiner Themenformulierung wird deutlich, dass es nicht
selbstverständlich ist, im Angesicht des Todes zu erziehen. In der Tat ist dies
von anderer Qualität als die Einführung der Subtraktion oder der Gebrauch des
scharfen ß nach der neuen Rechtschreibung. Wenn es sich dabei um eine
Herausforderung handelt, dann übersteigt der bewusste Umgang mit dem Tod im
Bereich der Erziehung den herkömmlichen Rahmen pädagogischen Handelns.
Herausforderungen ragen heraus aus den Anforderungen des Üblichen. Der englische
Historiker Toynbee wies in diesem Zusammenhang auf challenge and
reponse hin, machte deutlich, wie Herausforderungen auf eine Antwort
hinzielen. Wer herausgefordert wird, verlässt einen gesicherten Ort und macht
Schritte auf einem ungewissen Stück Weg, wobei Unsicherheit oder Ängste nicht
ausbleiben. Wenn sie jedoch wahrgenommen werden, helfen sie beim Antwortgeben.
Bei der Formulierung im Angesicht des Todes geht es
mir um einen pädagogischen Standort in der Welt, welcher die Ambivalenz des
Lebens berücksichtigt und den dunklen Pol menschlicher Existenz nicht aus dem
Auge verliert. Dies entspricht dem Mitten wir im Leben sind von dem Tod
umfangen!
In meinem Referat suche ich nach Ursachen für die
Schwierigkeiten der Pädagogik mit dem Thema Kind und Tod und stelle den
Erwachsenen / Pädagogen dar in wechselnden konkreten Erziehungssituationen.
Hauptanliegen ist dabei das Kind, welches erste Erfahrungen mit dem Tod macht
oder gemacht hat, denn mit einem solchen Kind gelangt diese Thematik ja ins
Klassenzimmer, in den Gruppenraum. Ich werde zeigen, wie im normalen Geschäft
der Erziehung der Tod, die Trauer eine von den vielen roten Fäden sein können,
die kontinuierlich durchs Jahr begleiten.
Gegen Ende werfe ich einen kurzen Blick in die Kinder- und
Jugendliteratur der letzten Jahrzehnte, um zu sehen, wie dort die Konfrontation
Kind und Tod dargestellt wird. Den Bericht über eine
pädagogisch-psychologisch arbeitende Initiative in England verwende ich als
Podiumsbeitrag und suche gleichzeitig eine Antwort auf die Frage, ob spezifische
Trauergruppen für Kinder sinnvoll sind.
Was kümmert uns Pädagogen das Ende des Lebens? Was sollen wir
uns mit dem Tod beschäftigen? Besteht nicht unsre primäre Aufgabe darin, Kinder
in ihren natürlichen Reifungsprozessen zu unterstützen? Sind wir in unserer
Arbeit nicht einem Gärtner vergleichbar, der in seiner Baumschule für Wachstum
sorgt? Wir sind dem Gesetz der Entelechie verpflichtet, d.h. wir fördern die
zielstrebigen Kräfte des Kindes, die seine Entwicklung lenken, damit sich seine
ursprünglich angelegte Form entwickeln kann. Unsere Devise heißt Führen und
Wachsenlassen. Unser Geschäft ist auf Zukunft angelegt. Zuversicht und Vertrauen
in sich und in die Welt wollen wir den Kindern vermitteln. Gefahrensituationen
werden bewusst gemacht, und wir zeigen, wie sie verändert werden können.
Ermutigung, Selbstvertrauen, Erfolgszuversicht bei Rückschlägen, das ist es, was
Kinder brauchen. Das Sterben, die Grenze, der Tod, das wird benannt, wenn es
unbedingt sein muss. Waldsterben, Baumsterben, aber wir wollen den Kindern doch
das Gute im Leben vermitteln. Sicher - manchmal stirbt halt doch jemand. Aber
dafür ist der Kollege von der Glaubensfakultät zuständig. Bei dem steht der Tod
schließlich im Lehrplan.
Nach diesem Monolog sieht es fast so aus, als ob die Frage
Ist der Tod ein verdrängtes Thema in der Erziehung? schon beantwortet ist.
Aber ich möchte verstehen, wie es zu diesen Schwierigkeiten kommt.
Zunächst geht mein Blick zurück in die Geschichte früherer
Jahrhunderte, denn Einstellungen dem Tod gegenüber sind Wandlungen unterworfen.
Philippe Aries macht in seiner Geschichte des Todes deutlich, wie zu
Beginn des 20.Jahrhunderts die Tendenz sich durchsetzt, den Tod aus der
Gesellschaft auszuklammern, die Trauer abzuschaffen. Diese Veränderungen hatten
in erster Linie negative Auswirkungen auf die Kinder. Solange im Angesicht der
Gemeinschaft gestorben wurde, kamen die Kinder auf ihre Kosten, d.h. sie lernten
sinnenfällig, wie das Sterben in den natürlichen Ablauf des Lebens integriert
war. Da sie angewiesen sind auf konkrete Eindrücke und auf die Anteilnahme an
der Trauer der Erwachsenen, hatten sie die Möglichkeit, eigenes Trauergefühl zu
entwickeln. Mit dem Ende dieser Sterbenskultur gerieten die Kinder ins Abseits,
begannen die Schwierigkeiten der Erwachsenen, wurden die Kinder kaum noch
informiert, oft falsch informiert, im Unklaren gelassen oder einfach belogen.
Scheinbar macht es ihnen ja nichts aus.
Die stecken das doch weg! Denen macht der Tod doch gar nichts
aus! Neulich bei der Beerdigung waren Kinder dabei, die haben gelacht!
Solche Äußerungen sind bis heute oft zu hören. Zunächst ärgern und empören sie
mich, aber dann muss ich zugestehen, dass an diesem schwierigen Verhältnis von
Kind, Tod und Pädagogik das Kind mit beteiligt ist, weil seine Trauer oft nicht
klar zu verstehen ist, da sie so anders verläuft als die der Erwachsenen. In
erster Linie ist es die Sprunghaftigkeit seiner Traueräußerungen, die dem
Erwachsenen fremd ist. Kinder können massive Trauerausbrüche äußern, liegen am
Boden wie zerstört, um sich dann plötzlich, als ob nichts gewesen wäre, wieder
davon zu entfernen. Kinder trauern gleichsam auf Raten. Dieses Verhalten, das in
erster Linie dem Erhalt ihrer seelischen Stabilität dient, überfordert viele
Erwachsene. Solange aber kindliches Trauerverhalten nicht Thema von
Fortbildungsveranstaltungen für Pädagogen wird, blockieren diese veralteten
Einstellungen weiterhin den Umgang mit dem Tod in der Erziehung.
Auf der Seite der Erwachsenen kommt noch erschwerend hinzu:
sie wollen sich vor allem den Anblick eines trauernden Kindes ersparen, um ihr
eigenes Kindheitsideal nicht in Frage stellen zu müssen. Erwachsene lieben am
meisten fröhliche und lachende Kinder, und Kinder passen sich in ihre Vorlieben
ein. Gleichzeitig ist es schwer, die Frage zu beantworten, wie eigentlich ein
trauerndes Kind aussieht. Am einfachsten hat es der Erwachsene mit dem weinenden
Kind, denn Tränen lösen die Bereitschaft zum Trösten aus. Schwerer haben es dann
die still trauernden Kinder, vor allem aber die, welche mit der Last ihrer
Trauer nur dadurch ins Gleichgewicht kommen, dass sie albern, Quatsch machen,
cool werden. Eine Kollegin klagt, weil sie ihr Mitgefühl für einen Jungen,
dessen Mutter im Sterben liegt, nicht anbringen kann, da der Junge dies mit
seiner coolen Abwehr vereitelt. Dieses Sich-kalt-Stellen gehört aber ins
Verhaltensrepertoire von Kindern, denen emotional zu viel abverlangt wird. Ihre
Wunde hat sich mit einer Eisschicht umgeben. Wir sollten es ihnen nicht
verübeln, denn diese Vereisung dient dem Schutz ihrer Person.
Die folgende Frage, die mir beim Blättern in Aries Buch
kam, möchte ich an Sie weitergeben. Ob die große Gleichgültigkeit vieler
Erwachsener dem Thema Tod bei Kindern gegenüber etwas zu tun hat mit der hohen
Kindersterblichkeit früherer Jahrhunderte? Dort wurde ja sichtbar: Kinder stehen
dem Tod näher als Erwachsene, können von ihm schnell zurückgeholt werden. Diese
Gefährdung kindlichen Lebens schlägt sich auch nieder in den vielen Geschichten
und Gedichten der letzten beiden Jahrhunderte, die als sogenannte
Kinderschreckgeschichten pädagogisch gezielt eingesetzt wurden. In vielen
Varianten wurden sie in meiner Kindheit noch erzählt. Der Tod wurde als Angst
und Schrecken auslösendes Erziehungsmittel eingesetzt. Stets wurde ein
unvorsichtiges Kind in extremer Gefahrensituation beschrieben. Es hatte ein
Verbot missachtet und bezahlte dafür mit dem Leben. Fritz der Näscher
z.B. ist scharf auf Zucker und schleckt gerne, aber am Ende schleckt er Arsen,
das ja so aussieht wie Zucker, offensichtlich in jeder bürgerlichen Küche
verwendet wird, und aus ist es da mit diesem unartigen Kind. Die Moral dieser
Geschichten hieß, der Tod ist die natürliche Strafe kindlichen Ungehorsams. Das
Unglück ist die Folge eines Fehlverhaltens und deshalb vermeidbar. Auf diese
Weise verlor der Tod seinen metaphysischen Schrecken, aber dafür stieg die
Lebensangst!
Ich wende mich nun wieder der Gegenwart zu, um die
Sprachlosigkeit heutiger Alltagspädagogik im Hinblick auf den Tod an folgendem
Beispiel zu verdeutlichen: In einer vierten Klasse hatte ich eine Vertretung,
denn der Vater der Klassenlehrerin war gestorben. Es war die erste Schulwoche im
Januar. Die Kollegin bat mich, ein Gedicht zum Ablauf der Zeit zu behandeln. Das
tat ich gerne, schien es mir doch eine gute Gelegenheit, auch über den Todesfall
mit den Kindern zu sprechen. Sehr erstaunt war ich aber dann doch, dass sie
nicht wussten, warum ihre Lehrerin nicht da war. Als ich sie informierte, ergab
sich sofort ein sehr intensives Gespräch, fiel es manchen Kindern wie Schuppen
von den Augen, weil sie sich nun das veränderte Verhalten ihrer Lehrerin
erklären konnten. Ein Junge meinte: Da muss etwas passiert sein, das hab ich
der angesehen. Mit dieser Aussage verweist er darauf, wie aufmerksam,
hellhörig und sensibel Kinder ihre Lehrer wahrnehmen, wie sie sich Gedanken und
Sorgen um diese machen und wie sie darauf angewiesen sind, dass der Erwachsene
sich klar, d.h. eindeutig äußert, denn sie spüren die Diskrepanz sofort. Dieses
alltägliche Beispiel zeigt aber auch, wie die Chance, über den Tod in der Schule
zu sprechen, sich plötzlich anbietet, spontan genutzt werden will, wie sie aber
häufig nicht wahrgenommen wird. Heute passt es nicht, morgen oder irgendwann.
Wir fahren fort; wo waren wir doch gleich stehengeblieben? Seite 25, Anton lies
weiter!
Im Kampf mit großen Klassen, schwierigen Kindern in einer
sich rasant wandelnden Welt, verbunden mit einer Überfülle stofflicher Vorgaben,
die es methodisch-didaktisch geschickt zuzubereiten gilt, legen sich viele
Pädagogen Scheuklappen an, um zu überleben. Viele Fragen der Kinder im Hinblick
auf ihre Erfahrungen in einer vielfach gebrochenen Welt können nicht gestellt
werden. Ich halte diese Fragen nach dem Tod nicht aus, die gehen mir unter
die Haut, ziehen mich total runter! Ich kann doch nicht, nur weil Lenas Opa
gestorben ist, meine Mathestunde opfern, übermorgen schreiben wir einen Test!
Der Tod ist doch ein Einzelfall, die andern interessiert das nicht!
Jetzt scheint es ja so, als ob Erziehen im Angesicht des
Todes eine sehr aufwändige Angelegenheit ist. Aber das Gegenteil ist der Fall,
denn es sind die leisen Töne, die tief reichen, Gesten des Verstehens. Wenn ein
Kind Einblick bekommen hat in den Bereich menschlicher Existenz, der in eine
jenseitige Welt reicht, dann wird es vielleicht stumm. Blicke, eine Hand, die
über die Haare streicht, eine wissendes Lächeln zeigen, der Erzieher hat das
trauernde Kind angenommen. Diese Erfahrung trägt es und lässt es weiter wachsen.
Wie sieht also das Profil eines Pädagogen aus, der sich der Ambivalenz des
Lebens stellt, sich nicht scheut, die Kinder in eine ambivalente Welt zu setzen,
bzw. eine solche Welt in die Kinder zu setzen? Dieses Wortspiel entnehme ich
Günther Bittners Buch Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen.
Welche Kompetenzen benötigt ein Erzieher, um diese Aufgabe zu erfüllen?
Beispiel: In einem ersten Schuljahr malten die Kinder
Bilder ihrer Familien, die anschließend an die Wand gehängt wurden. Mitten
hinein in dieses entspannte und sehr konzentrierte Tun platzte die Frage eines
Mädchens: Kann ich meinen Papa malen, der ist doch tot! Meine spontane
Antwort hieß: Natürlich kannst du deinen Papa malen, auch ein toter Papa ist
ein Papa! Dieses kleine Geschehen war von großer Wirkung, ein intensives
Miteinanderreden begann. Niemand hatte gewusst, dass Saras Vater tot war. Und
Sara war unsicher, wohin mit ihrem toten Papa. Sie wirkte erleichtert und
gelöst, beantwortete bereitwillig die vielen Fragen der Mitschüler. Am folgenden
Tag brachte sie Gegenstände ihres Vaters mit, die für einige Zeit im Klassenraum
blieben und auf diese Weise den Vater präsent machten.
Was sind nun die Voraussetzungen, damit Kinder solche Fragen
stellen können? Eine Voraussetzung ist die innere Haltung des Erziehers, die
geprägt ist von Offenheit im Hinblick auf den Bereich seelischen Erlebens. Ein
solcher Erzieher gibt den Kindern Raum, auch ihre Träume zu erzählen, was in
starkem Maße dem Abbau von Angst in einer Gruppe dient. Dazu kommt eine
geschulte Wahrnehmungsfähigkeit, sich selbst und den Besonderheiten kindlichen
Verhaltens gegenüber. Wird das Kind mit seiner emotionalen Befindlichkeit
gesehen, dann ergibt sich keine Zensur seiner Äußerungen. Wenn der pädagogische
Blick in die Tiefe geht und sich nicht einengen lässt von den Rastern richtig
und falsch, entsteht ein großer Freiraum, der, wenn er zum
geschützten Raum wird, alle Äußerungsformen des Kindes zunächst unbewertet
aufnimmt. Dies ist kein therapeutischer Schutzraum, schließlich wird dort
weiterhin das Einmaleins gelernt, aber auch bei diesem Tun kann plötzlich eine
existenzielle Frage auftauchen, die Antwort sucht. Auf diese Weise wächst
Vertrauen. In diesem Prozess hat der Erzieher eine große Bedeutung, denn seine
Anwesenheit bietet die Garantie für ein beständiges Echo durch seine Person,
auch wenn er nicht spricht. Kinder spüren diese innere Haltung, sobald sie im
Raum sind. Sie stellen sich unbewusst auf diese seelische Gestimmtheit ein. Wer
Kinder auf diese Art wahrnimmt, verhindert, dass Todeserfahrungen übersehen
werden. Das geschieht ja sehr schnell, und wieder hat das Kind einen Anteil an
diesem Verheimlichen-Wollen, denn es möchte ja eigentlich sein wie die anderen,
leidet unter der Erfahrung des Todes auch deshalb, weil sie ihn von den andern
unterscheidet. Nicht wenige Kinder schämen sich, tun alles, damit nicht ans
Licht kommt, was ihnen widerfahren ist. Auf der anderen Seite sind sie froh,
wenn ihre Erfahrung im Gespräch geteilt wird, die Scham verschwindet, ihr
soziales Verhalten im Umgang mit Gleichaltrigen wieder freier werden kann.
Auffallend ist, dass Äußerungen der Kinder über ihre
Todeserfahrungen im pädagogischen Alltag meist wie aus der Pistole geschossen
auf den Erwachsenen und die Gruppe treffen. Ganz schnell und unkontrolliert
platzen sie aus dem Kind heraus. Deshalb ist rasches pädagogisches Antworten
notwendig. Dieses Tun gehört in den Bereich der sog. Akutpädagogik. Die Antwort
muss im Moment gegeben werden, duldet keinen Aufschub, denn die einmalige
Situation lässt sich am nächsten Tag nicht pädagogisch neu inszenieren. Das
zeigt auch das folgende Ereignis: In einer dritten Klasse teile ich den Kindern
mit, dass sie am nächsten Tag keinen Unterricht bei mir haben, weil ich mit
einer Gruppe auf den Friedhof gehe. Prompt ruft ein Junge : Dann kannst du
meine Schwester besuchen! Niemand hatte gewusst, dass er eine kleine
Schwester gehabt hatte, die gestorben war. Nie hatte er vorher darüber
gesprochen, nie hatte ihn jemand danach gefragt. Aber nun wussten es alle, und
es entstand ein tiefes und von viel Verständnis und Mitgefühl geprägtes
Gespräch, an dem sich ausnahmslose alle Kinder der Gruppe beteiligten. Das Thema
Tod hat nun mal eine existentielle Bedeutung, von der Kinder genauso ergriffen
werden wie Erwachsene. Ich denke, es gibt auch ein natürliches Bedürfnis, über
das Lebensende zu sprechen. Solche Gesprächsrunden haben die Neigung, ab einem
bestimmten Punkt ins Humorvolle zu gleiten. Auf einmal muss gelacht werden,
werden Witze gemacht. Das ist gut so, denn Tragik und Komik hängen eng zusammen.
Das laute Lachen ist von befreiender Wirkung, weil sich damit der Pol des Lebens
wieder deutlich zeigt. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf die Bedeutung
von Kreativität im Angesicht des Todes hinweisen. Die Erfahrung des Todes
verlangt geradezu nach schöpferischer Gestaltung, transformiert auf diese Weise
das Erleben und verwandelt die dunklen Gefühle. Auch dies ist eine Erfahrung,
die Kinder machen können.
Das folgende Beispiel stellt für mich eine geglückte
Integration des Todes ins Leben eines Kindes dar. Jacob hat im unteren Viertel
seines Malblattes einen waagrechten Strich durchgezogen. Im oberen Teil malte er
Häuser und Menschen, darunter ein schwer identifizierbares Wesen. Im Gespräch
teilte er mit, das sei sein Papa. Dieser Junge hatte mich und die anderen Kinder
gelehrt, wie ein lebendiger Bezug zum verstorbenen Vater über Jahre bestehen
kann, ins gültige Weltbild eingefügt ist. Fast in allen Bildern war der Vater
zugegen, mal unter der Erde, mal oben aus einer Wolke schauend.
Für das Kind, das in seiner Familie einen Todesfall erlebt
hat, wird die Schule, der Kindergarten, der Hort besonders wichtig, weil sie
eine Gegenwelt zum Zuhause sein können. Dort bleibt die vertraute Welt stabil.
Alles ist noch wie gestern und vorgestern. Diese Erfahrung tut dem trauernden
Kind gut. In seiner Kindergruppe erlebt es die verlässliche Kontinuität seines
Lebens, und alle wissen, was ihm widerfahren ist. Zuhause hat sich alles
verändert, ist nichts mehr wie vorher, sind die bisher tragenden Strukturen ins
Wanken geraten.
Diesem wissenden pädagogischen Blick kommt eine große
Bedeutung zu. Deshalb sollte bei jedem Kind, das bereits Todeserfahrungen machen
musste, eine Notiz in seiner Karteikarte darauf verweisen. Warum diese
Sonderbehandlung? Ist es eine Sonderbehandlung, wenn es dem Kind, das an
Allergien leidet, gleichgestellt wird? So wie dieses vor toxischen Reaktionen
geschützt werden soll, hat auch das Kind, das den Tod erlebt hat, ein Recht, in
seiner Besonderheit gesehen zu werden. Für diese Kinder bedeuten alle
zukünftigen Trennungen und Übergangssituationen, alles Abschiednehmen eine große
Belastung, denn sie berühren die Wunde. Nur wer weiß, was das Kind im Rucksack
seines Lebens trägt, kann es dann verstehen.
Beispiel: Beim Versteckspielen in einer 4. Klasse war ein
Junge unauffindbar. Erst eine Stunde nach Spielende tauchte er in einer
desolaten Verfassung auf, schrie, brüllte, weinte und schlug auf alle ein, die
ihm zu nahe kamen. Was war geschehen? Stolz auf sein gutes Versteck hatte er
erleben müssen, dass ihn niemand findet. Er ging sich verloren und drückte in
seinem Verhalten seine Verlassenheitsangst aus. Er war blind vor Wut, weil
niemand ihn gefunden hatte. Es dauerte lange, bis sich seine Affekte beruhigten.
Für diesen Jungen war das Ende der Grundschulzeit eine sensible Übergangszeit,
konfrontierte sie ihn doch erneut mit dem Abschied nehmen müssen wie beim Tod
des Vaters vor einem Jahr. Die bisherige Stabilität seiner vertrauten Schulwelt
brach auseinander, massive Ängste machten sich breit. Nur wer um seine
Todeserfahrung weiß, kann nach vollziehen, was ihm widerfuhr. Das ist Erziehen
im Angesicht des Todes.
Den größten Impuls, Kindern das Thema Tod nicht
vorzuenthalten, hat der situationsorientierte Ansatz aus dem Bereich der
Vorschulpädagogik gegeben. Ihm verdanken wir die meisten der in den letzten
Jahren entstandenen Bücher, auch mein Buch Kinder in ihrer Trauer begleiten –
ein Leitfaden für ErzierInnen. Aber auch pädagogische Zeitschriften haben
dabei ein großes Verdienst. Theorie und Praxis der Sozialarbeit hat vor
wenigen Wochen ein Sonderheft gebracht, und sogar in der Grundschulzeitung
wurde ein Unterrichtseinheit über den Tod veröffentlicht. Das sind gute Zeichen,
denn sie zeigen, es bewegt sich viel in der pädagogischen Landschaft.
Wenn ich nun in die Welt der Kinder- und Jugendliteratur
gehe, um zu sehen, welche Bedeutung dort der Tod hat, dann hat alle Not ein
Ende, denn die Auseinandersetzung mit dem Tod hat einen bevorzugten Platz, ist
geradezu ein Lieblingstopos in Kinder- und Jugendbüchern. Viele Helden oder
Heldinnen sind Waisenkinder, Heidi, Oliver Twist und Tom Sawyer gehören zu den
ältesten literarischen Gestalten, deren Eltern tot sind. Harry Potter reiht sich
ein und verkörpert ein Kind, das immer wieder über die Bedrohung des Todes
nachdenkt, denn sein Lebensanfang bedeutete das Lebensende für seine Eltern. Er
behält eine Narbe an der Stirn, die sich immer dann schmerzhaft meldet, wenn
etwas Bedrohliches im Busch ist. Ich denke, ein Teil der Faszination, die von
diesem Jungen ausgeht, hängt mit dieser Prägung zusammen.
Bisher hatte ich noch nicht von den Gefahren gesprochen, die
auftreten können, wenn in einer Kindergruppe der Tod aktuell wird. Ich möchte
dies nun tun anhand des Buches die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren.
Wenn in einer Gruppe über den Tod gesprochen wird, weil ein Kind z.B. seinen
Vater verloren hat, dann kann das ansteckend wirken. Plötzlich erzählte Mara,
ihr Vater, der erste Mann ihrer Mutter, sei gestorben. Täglich versorgte sie uns
mit neuen Informationen. Die Kinder staunten, weil in der kleinen Klasse so
plötzlich zwei Kinder keinen Vater mehr hatten. Irgendwann erfuhr die Mutter von
der Geschichte ihrer Tochter und bezeichnete sie als ein Opfer der Brüder
Löwenherz. Mara war fasziniert von diesem Buch, bekam glänzende Augen, wenn sie
von Nangijala erzählen konnte und machte deutlich, dass für sie das Reich des
Todes eine herrliche Abenteuerwelt war. Dazu kam, dass sie durch den realen Tod
des Vaters der Klassenkameradin in den Sog des Todes geraten war, natürlich auch
gesehen hatte, wie viel Zuwendung dieses Mädchen von der Gruppe bekam. Mit
diesen Kräften muss der Erzieher verantwortlich umgehen. Nicht alle Kinder- und
Jugendbücher erfüllen die Forderung, der Todessehnsucht nicht Vorschub zu
leisten, die Jenseitswelt nicht zu verherrlichen.
Am Schluss meines Referates hören sie die Stimme eines
Mädchens. Vor einiger Zeit hatte ich mit Kindern meiner alten Klasse ein Feature
über den Tod für den Kinderfunk des MDR mitgestaltet. Amelies Vater war kurz
zuvor gestorben. Ihre Worte machen konkret, was es heißt, wenn die Grenze
unseres Lebens durch ein Kind in Worte gefasst wird.