Andacht beim Bezirksfrauentag
Da steht eine alte Frau plötzlich allein in der Welt. Zuerst
starb der Mann, einige Jahre später starben auch noch die Söhne. Eine Frau
bleibt zurück. Noomi heißt sie und lebt in einer Zeit, in der Frauen nur dann
ein Existenzrecht haben, wenn sie in einer Familie mit Männern und Söhnen leben.
Dann ist für sie gesorgt. Noomi aber hat mit dem Tod ihrer Söhne und ihres
Mannes alles verloren. Allein und verlassen überdenkt sie ihr Leben.
Sie hatte es sich ganz anders vorgestellt! Damals, als sie
noch jung war, mit ihrem Mann und den Söhnen die Heimat verließ, weil Hungersnot
herrschte. Damals hatten sie keine andre Wahl. Sie konnten nur überleben, weil
sie den Mut hatten, alles Vertraute hinter sich zu lassen. Viele hatten
vorwurfsvoll gesagt: Wie könnt ihr nur eure Heimat aufgeben? Das tut man doch
nicht! Aber Noomi und ihr Mann dachten anders. Ist das noch Heimat, wenn das
Brot ausgeht? Ist das noch Heimat, wenn das Korn auf dem Acker verfault? Ist das
noch Heimat, wenn die Not und das Elend im Land wohnen?
Heimat ist ja nicht nur der Ort, wo eine Frau zuhause ist.
Heimat ist auch der Ort, wo gutes Leben möglich ist, wo eine Frau wachsen und
gedeihen kann, ihr Hunger und Durst nach Leben gestillt wird. Heimat, das hat
viel mit guter Nahrung zu tun, denn die Heimat nährt das große Verlangen nach
dem Ort, an dem ich verwurzelt bin. Doch wenn die Nahrung ausbleibt, tritt
Mangel ein, der bis an die Wurzeln reicht. Diese Erfahrung der existenziellen
Not kann Menschen in Bewegung setzen. Die Not, die Entbehrung, das Elend, das
Leiden und der Mangel wirken dann als Motor und machen Beine. In der Bibel wird
viel erzählt von solchen Menschen, wie sie aufbrechen aus Verhältnissen, die
nicht mehr gut sind. Meist tragen sie eine große Sehnsucht in ihrem Herzen. Die
gibt ihnen Kraft und führt sie in gelobtes Land.
So war es auch bei Noomi. Jetzt, wo sie erneut in Not geraten ist, erfährt sie,
es gibt in der alten Heimat wieder genug zu essen. Und sie spürt eine große
Sehnsucht in ihrer Seele. Noch einmal dort hingehen, wo ihr Leben angefangen
hat.
Noomi geht zurück, und ihre Schwiegertöchter gehen mit. Ja,
Noomi ist Schwiegermutter zweier Töchter. Und mit dieser Bezeichnung passt sie
so gar nicht in das Bild der Schwiegermutter, die bei uns so gerne als böse
bezeichnet wird. Drei Frauen wagen den Aufbruch ins Ungewisse. Eine ältere und
zwei jüngere. Es ist in dieser Geschichte eindeutig die alte Frau, welche
nüchterne Überlegungen anstellt, den Töchtern ihre Situation schildert, klar und
eindeutig. Ihre Worte helfen Orpa beim Entschluss, nun doch wieder umzukehren.
Rut aber bleibt und spricht die wunderbaren Worte: Wohin du gehst, dorthin
gehe ich auch ;wo du bleibst, da bleibe ich auch! Für die beiden Frauen wird
wahr, was wir alle als große Sehnsucht in uns bergen: Ich möchte, dass einer
mit mir geht! Nicht immer löst sich dieses Verlangen so beispielhaft wie in
der Geschichte. Oft bleiben Menschen allein. Oft ist gerade der Lebensabschnitt
des Älterwerdens eine Zeit auch des Alleinseins. Es fällt nicht immer leicht,
sich im Alleinleben einzurichten.
Ich habe mir das ganz anders vorgestellt, sagt eine
85jährige Frau, die seit einem Jahr Witwe ist. Ganz anders ist mein Leben
geworden. Aber ich weiß seit einigen Wochen, dass ich noch eine Aufgabe auf der
Welt habe.
Diese Frau gehört nicht zu denen, die unentwegt reisen müssen, um ihr Alter
auszuhalten. Sie geht auch auf Abenteuer und sagt von sich: Auf meine alten
Tage bin ich eine Sucherin geworden! Wer hätte das gedacht! Ich spüre diese
Sehnsucht nach einem, der mit mir geht, mich begleitet. Ich spüre manchmal seine
Gegenwart in mir. Vielleicht bin ich eine Gottsucherin geworden. Das treibt mich
um, und darüber staune ich. Es gibt so schöne Räume in meinem Inneren, sie
zeigen sich manchmal im Traum oder wenn ich einfach still werde. Vielleicht ist
das mein Amt als alte Frau, in der Zeit, die mir noch bleibt, Gott zu suchen.
Und Noomi, gehört auch sie zu den Gottsucherinnen? Sie
schafft den Heimweg, hat genügend Kraft, die weite Strecke zurück in die Heimat
zu gehen. Mehr als einmal hatte sie daran gedacht, wie das wohl sein würde, wenn
sie ankommt, ob die Menschen dort sie noch kennen? Was mache ich, wenn sich
keiner mehr an mich erinnert? Was mache ich, wenn alle aus der Verwandtschaft
tot sind? Aber Noomis Sorgen werden nicht Wirklichkeit, denn als sie durch die
Straßen geht, bleiben die Leute stehen und fragen einander: Ist das nicht
Noomi? Wie ein Lauffeuer breitet sich die Nachricht aus: He, habt ihr
schon gehört, Noomi ist wieder da. Was die? Und ihr Mann? Und ihre Söhne?
Und schon ist Noomi wieder Teil der Gespräche. Ihre Integration in die Heimat
beginnt.
Sie findet Wohnung bei ihrer Verwandtschaft. Damit beginnt
für ihre Schwiegertochter Rut eine aufregende Zeit. Boas wirbt um sie. Und nun
ist es Noomi, die aus dem Hintergrund vertrauensvoll bei dieser Liebesgeschichte
mitmischt und sie mit guten Gedanken begleitet. Am Ende hat Noomi einen Enkel
auf dem Schoß. Sie ist am Ziel ihres langen Lebensweges angekommen. Endlich ein
Enkelkind auf dem Arm haben! Auch dies gehört zu den Sehnsüchten des Alters,
denn die Alten und die Kleinen verbindet sehr viel. Beide sind dem Ursprung des
Lebens sehr nahe. Als das Baby Jesus zum ersten Mal im Tempel dabei ist, freut
sich die alte Prophetin Hanna, weil sie das Kind sehen kann, auf das sie so
lange gewartet hat.
Ein Kind verkörpert Zukunft und neues Leben. Wahrscheinlich
sind wir deshalb so berührt vom Anblick einer alten Frau, die ein Kind auf dem
Arm hält. Es ist das Bild der alten Frau Noomi, die noch einmal aufbrechen
musste, weil sie alles verloren hatte. Jetzt hat sie ihre Heimat und neues Leben
gefunden.