Auf den ersten Blick scheint Scham heute im pädagogischen
Alltag kaum noch von Bedeutung zu sein. Das war früher anders, denn bei
schlechtem Benehmen wurden Kinder mit dem Zuruf „Schäm dich!" in die Ecke
gestellt und vorübergehend aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Doch diesen
Griff in die pädagogische Mottenkiste scheuen heutige Erzieher, denn sie sind
sich ihrer eigenen Scham-Biografie bewusst und wollen Kindern ersparen, worunter
sie selbst einmal gelitten haben.
Doch wenn ein Kind mit gesenktem Blick und rotem Gesicht
stumm vor ihnen steht, kommen diese Erwachsenen in die Klemme. Plötzlich hat
sich die bisherige Kommunikation mit dem Kind verändert, denn sein Schamgefühl
bewirkt eine Atmosphäre peinlicher Verlegenheit, die auch der Zuruf „Du brauchst
dich nicht zu schämen!" nicht beseitigen kann. Offensichtlich ist es gar nicht
selbstverständlich, den Anblick eines sich schämenden Kindes auszuhalten. Dabei
brauchen Kinder kompetente Erzieher, die sie begleiten, denn in solchen
Situationen werden sie überschwemmt von Minderwertigkeitsgefühlen; ihr
Selbstgefühl sinkt und macht sie orientierungslos.
Strenge Lehrmeisterin im sozialen Bereich
Wer kennt nicht den Wunsch, in den Erdboden zu versinken oder sich so klein zu
machen, dass man in einem Mauseloch verschwinden kann? Gegen diese typischen
Schamreaktionen ist kein Kraut gewachsen; auch die verräterische Röte im Gesicht
lässt sich nicht kontrollieren. Woher kommt das? Auf der einen Seite weckt Scham
den Wunsch, sich zu verhüllen, auf der anderen Seite ist sie verbunden mit der
Erfahrung, sich eine Blöße gegeben zu haben. Dieser Vorgang geht einher mit der
Erkenntnis der eigenen Schwäche und Fehlerhaftigkeit. Im günstigsten Fall kann
die peinliche Erfahrung zum Antrieb werden, sich in ähnlicher Situation nächstes
Mal angemessener zu verhalten.
Beispiel 1: Ich gehe freudestrahlend auf einen Menschen
zu, den ich unbedingt begrüßen möchte, weil ich ihn für einen alten Bekannten
halte. Doch im letzten Augenblick stelle ich fest, dass ich mich geirrt habe.
Verlegen und stumm halte ich inne und schäme mich, weil meine Erwartungen, mein
Verhalten und die Realität nicht zusammenpassen. Hier zeigt sich schonungslos,
dass im sozialen Bereich Scham die wichtige Rolle der Wächterin an der Grenze
zwischen der Intimität der persönlichen Innenwelt und der Außenwelt spielt. Mir
wird schlagartig bewusst, dass ich mich „zu weit aus dem Fenster gelehnt" habe
und dadurch aus dem Gleichgewicht geraten bin. Ausgerechnet die unangenehme
Reaktion der Scham sorgt dafür, dass sich wieder eine neue Balance zwischen
innen und außen bildet. Auf einmal ist mir die Auswirkung meines Verhaltens
bewusst. Nach kurzem Innehalten nehme ich mir vor, beim nächsten Mal
vorsichtiger zu sein, und zeige damit, dass ich mit meiner Scham positiv umgehen
kann. Im ungünstigsten Fall überwiegt das Gefühl der Minderwertigkeit, und ich
mache die Grenzen zur Außenwelt dicht.
Beispiel 2: Einige Kinder sitzen am Tisch und malen
konzentriert und mit Hingabe. Nach einer Weile blickt ein Mädchen auf, legt ihre
Buntstifte weg und zerreißt ihr Blatt. Was mit Lust begonnen wurde, stimmt auf
einmal nicht mehr. Was ist passiert? Nachdem das Mädchen die Bilder der anderen
Kinder gesehen hat, ist es unzufrieden mit seinem Werk, fühlt sich unzulänglich
und hat Angst, alle anderen könnten gesehen haben, was für eine Niete es ist.
Obwohl keines der anderen Kinder sich abfällig geäußert hat, meint das Mädchen,
in ihren Blicken genau diese Botschaft zu lesen. Die Unsicherheit und Angst, in
seinem Unvermögen gesehen zu werden, hat die Wahrnehmung des Mädchens verzerrt.
Der Blick der anderen und das Selbstbild
Kinder brauchen Ermunterung und Unterstützung, damit ihr
Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wachsen kann. Dabei ist es wichtig, dass
andere wahrnehmen, was sie können, denn nur so kann ein Gefühl dafür entstehen,
jemand zu sein, der etwas kann. Die Übereinstimmung mit dem anderen, dem
Gegenüber, drückt sich im Blick und im Verhalten aus.
Beispiel 3: Der fünfjährige Mirko baut aus Lego einen
flotten Flitzer. Er ist hochmotiviert, freut sich darauf, das Fahrzeug seinen
Freunden zu präsentieren, und hört in seiner Fantasie bereits ihre Bravorufe.
Doch die angesprochenen Kinder wenden sich mit Desinteresse ab. Mirko steht
buchstäblich im Regen und schämt sich, weil er die Situation falsch eingeschätzt
hat. Er hat sich getäuscht, fühlt sich nun verlassen und minderwertig und spürt
ein großes Bedürfnis nach Rückzug und Schutz. Der Junge leidet unter dem Gefühl
der mangelnden Übereinstimmung mit seinen Freunden. In seinem Inneren tobt eine
Auseinandersetzung zwischen seinen Erwartungen und der erfahrenen Realität,
zwischen Selbstbild und wirklichem Selbst. Mirkos Bild von sich wurde durch die
Reaktion seiner Freunde korrigiert. Nun lenkt die Scham seinen Blick nach innen
und hilft ihm, das Geschehen zu verarbeiten. Eine Zeit lang spielt er ganz für
sich allein, nach einer Weile ergibt sich ein Kontakt mit einem anderen Kind.
Mirko wurde also nicht zum Opfer seines Schamgefühls. Sein natürlicher
Spieltrieb setzte sich durch, er konnte wieder nach außen gehen.
Die Entwicklung des Schamgefühls
Scham ist ein angeborener Affekt, den jedes Kind in seinem
biologischen Programm mit auf die Welt bringt. Manche Fachleute sehen bereits in
der Acht-Monats-Angst des Fremdelns den Ausdruck ersten Scham-Erlebens. Das Kind
weint beim Anblick eines fremden Gesichts, denn seine Augen sehen nicht die
erwartete vertraute Bezugsperson. Befremdliche Erfahrungen mit dem Gesicht des
Gegenübers macht ein Kind jedoch auch in der Beziehung zu Vater oder Mutter,
denn auch die besten Eltern sind nicht in der Lage, ihr Kind stets positiv zu
spiegeln. Überwiegen negative Erfahrungen, verstärkt sich beim Kind die
Schamanfälligkeit und hemmt sein natürliches Welteroberungsstreben, weil die
Grenzen seines Selbst instabil sind.
Die Entwicklung der Scham geht mit der Sauberkeitserziehung
einher. Ab dem 2./3. Lebensjahr lernen Kinder, ihre Muskulatur besser zu
beherrschen. Dieser Zuwachs an Autonomie vergrößert ihren Aktionsradius. In
dieser Zeit gelingt ihnen auch die wichtige Unterscheidung von „mein" und
„dein", und sie erfahren ihren Körper als sinnvoll und gut. Äußerungen des Ekels
und der Abwertung von Erwachsenen verunsichern das Kind. Gleichzeitig muss es
lernen, seinen wachsenden Willen in den Kontext sozialer Verträglichkeit zu
stellen, weil sein Neugierstreben an Grenzen stößt. Solche Situationen erlebt es
als Niederlagen. Der Kontrollverlust wird als Scham auslösende Bloßstellung
erlebt.
Die Entwicklung der „Theory of Mind"
Über die unangenehmen Erfahrungen der Scham wird das Kind
fähig, sich zum Gegenstand seiner Wahrnehmung zu machen. Es lernt zunehmend, die
Motive und Absichten der anderen von seinen eigenen zu unterscheiden. Diese
Fähigkeit, zu verstehen, was die Motive und Absichten anderer sind, die „Theory
of Mind", erweitert sich. In dieser Zeit fangen Kinder auch an zu lügen, und
zeigen damit, dass sie sich in den anderen hineinversetzen können, also fähig
sind, die Perspektive zu wechseln. Das Weltbild der Kinder hat sich erweitert
durch die Erkenntnis, dass man die Dinge so oder auch anders sehen kann. Mit
jeder Scham-Reaktion weist ein Kind auf diesen Entwicklungsschritt hin.
Das Wissen um die Unzulänglichkeit und Schwäche der eigenen
Person geht Hand in Hand mit dem Wissen, wie mich die anderen sehen. So baut
sich über viele Scham-Erfahrungen auch der Bereich der Intimität auf. Scham ist
also nicht nur Wächterin an der Grenze zwischen innen und außen, sondern wirkt
auch als Baumeisterin innerer Räume. Das Kind nimmt den Blick des anderen in
sich hinein. Was macht das mit ihm? Es schämt sich vor dem anderen. Es schämt
sich aber auch vor sich selbst. Genau dieser Vorgang führt zu einer
Verinnerlichung von Selbstwahrnehmung.
„Der kann sich nicht einmal schämen!"
Wer kennt nicht die Klage über ein ADHS-Kind und sein
unsoziales Verhalten in der Gruppe? Es ist grob zu anderen; auf die Bitte, etwas
zu holen, reagiert es mit einem heftigen Wutanfall; wenn andere Kinder nicht
tun, was es möchte, werden sie gehauen. Belehrungen und Strafen zeigen keine
Wirkung. Das Kind wirkt seltsam unbetroffen und sieht sein Fehlverhalten nicht
ein. „Aber ich hab doch überhaupt nichts gemacht!" Immer sind es die anderen
gewesen.
Kinder mit ADHS zeigen keine Reaktion von Scham, weil sie
eine eigentlich beschämende Situation anders wahrnehmen und nicht nahe an sich
heranlassen. „Der kann sich nicht einmal schämen!", klagt eine Erzieherin über
einen Jungen, der einem anderen Kind großen Schaden zugefügt hat. Wenn Scham als
Korrektiv fehlt, hat ein Kind das subjektive Gefühl, nichts Schlechtes gemacht
zu haben. Da es die Peinlichkeit unangenehmen Schamerlebens nicht kennt, gerät
es unweigerlich immer wieder in dieselbe Situation, ist nicht fähig, aus seinem
sozialen Fehlverhalten zu lernen. Gerade im Umgang mit diesen Kindern zeigt es
sich, wie wichtig Scham für die Bildung des Gewissens ist.
„So ein verschämtes Kind!"
Die Angst vor Scham-Erfahrungen hemmt die kindliche Neugier,
es traut sich nichts zu. Sein schwaches Selbstwertgefühl hat in seinem Inneren
eine rigide Stimme geweckt, die es einen Versager nennt. Solche Kinder bleiben
oft zwanghaft in ihrer Scham stecken, sie sind isoliert und blicken in die Welt
durch eine düster gefärbte Brille.
Doch nicht jedes Kind hält diese Schamreaktionen aus. Viele verlassen ihre
„Scham-Insel" und überspielen die Scham durch provozierendes Verhalten. Sie
leben vor allem dann auf, wenn sie die Rolle des Clowns spielen können.
Die wirksame Waffe der Schamabwehr
Da Scham so unangenehm ist, den Boden unter den Füßen
wegzieht und das Selbstgefühl klein macht, lernen Kinder mit der Fähigkeit, sich
zu schämen, auch den gegenteiligen Umgang mit dieser Emotion kennen: Sie wehren
ab, was ihnen peinlich ist, um sich nicht als bloßgestellt zu erleben. Die
folgenden Formen der Schamabwehr lassen sich nicht nur in Kindergruppen
beobachten, denn auch Erwachsene greifen schnell zu diesen Strategien, wenn es
darum geht, ihr Gesicht zu wahren.
- Es gibt Kinder, die geben sich cool, gehen mit einem
unsichtbaren Panzer durch die Welt und lassen nichts an sich heran. Ihre Scham
ist hinter einer Maske der Gleichgültigkeit verborgen.
- Andere Kinder ziehen sich auf einen inneren Ort zurück, an dem sie der
geliebte Megastar sind, verehrt und angehimmelt werden und eine bedeutende Rolle
auf der Bühne des Lebens spielen. Mit dieser Fantasie schaffen sich Kinder eine
Gegenwelt und kompensieren das Gefühl der Minderwertigkeit.
- Eine der am häufigsten gezeigten Formen der Schamabwehr ist Aggression gegen
andere. Dem Kind, das seine Scham nicht erträgt, geht es erst dann wieder gut,
wenn es andere quälen und erniedrigen kann. Deshalb gibt es in der Gruppe immer
auch Kinder, die zum Opfer der unbewältigten Scham anderer Kinder werden. Nicht
selten geraten Kinder so schnell in die Rolle des schwarzen Schafes oder des
Sündenbocks. Um auf diese Rolle nicht fixiert zu werden, brauchen diese Kinder
Begleitung durch die Erwachsenen.
- Zur Schamabwehr gehört auch verbale Gewalt. Ein Mädchen beispielsweise, das
sich eigentlich schämen müsste, weil es einem anderen Kind absichtlich ein Bein
gestellt hat, ruft triumphierend: „Ist das ein Blödian!" Abfällige Reden über
andere zu führen, sie zum Opfer von Spott und Gelächter zu machen, obszöne Worte
zu gebrauchen, das sind häufige Formen öffentlicher Bloßstellung.
- Wer Scham erlebt, fühlt sich klein und ohnmächtig. Was liegt also näher, als
seine Größe und Macht dadurch zu beweisen, dass Schwächere geknechtet und
kontrolliert werden?
- Kinder, die keine Fehler zugeben können, weil sie ihre Scham abwehren, sind im
Alltag meist schlechte Verlierer. Diese Kinder haben ein übertriebenes Streben
danach, immer als Sieger und Bester dazustehen. Niederlagen darf es für sie
nicht geben!
Wenn Kinder sich für ihre Eltern schämen
Jedes Kind braucht die Erfahrung emotionaler Übereinstimmung
mit seinen Bezugspersonen. Sobald bei den Erwachsenen Unsicherheit,
Gleichgültigkeit oder Ablehnung überwiegen, löst dies beim Kind Scham aus. Läuft
da nicht etwas falsch? Eigentlich müsste es sich doch nicht schämen, denn es
fordert ja nur die ihm zustehende angemessene Zuwendung, die der Erwachsene aber
nicht geben kann. Die unbeantworteten Wünsche nach Beachtung lassen das Kind nun
denken, es sei falsch, mit ihm sei etwas nicht in Ordnung; heftige Schamgefühle
sind die Folge.
Streng genommen gehört die Scham auf die Seite der
Erwachsenen, die nicht dem Bild des guten Vaters oder der guten Mutter
entsprechen. Das Kind übernimmt jedoch ihre Scham, um sein Bild der Eltern nicht
zu beschädigen. Wenn Kinder diese Erfahrungen sehr häufig machen müssen,
entsteht ein Gefühl der Wertlosigkeit und Leere.
Bei einer Hospitation im Kindergarten setzte sich zum
Beispiel ein fünfjähriger Junge spontan neben mich und vertraute mir den großen
Kummer seines Lebens an. „Wir haben den Papa aus der Wohnung geschmissen, aber
ich habe ihn immer noch lieb!" In diesen Worten drückt sich das Dilemma des
Kindes aus, das Eltern in beschämenden Situationen erlebt hat. Der Junge lebt im
Spagat: Er identifiziert sich mit der Mutter, hält loyal zu ihr, obwohl sie den
Vater vor die Tür gesetzt hat. Gleichzeitig schafft er es, seine Liebe für den
Vater weiterhin auszudrücken.
Vermehrt mit Scham konfrontiert sind Kinder von psychisch
kranken, alkoholsüchtigen oder drogenabhängigen Eltern sowie Kinder von
Langzeitarbeitslosen beziehungsweise Sozialhilfe-Empfängern. Das Unvermögen des
Vaters oder der Mutter, den Lebensunterhalt für die Familie durch Arbeit zu
verdienen, erleben die Kinder häufig als einen beschämenden Makel, von dem
niemand in der Außenwelt wissen soll. Sie leiden unter dem sozialen Abstieg,
lernen Existenzängste in einem Alter kennen, in dem sich die Welt ihnen
eigentlich als zuverlässig und gut präsentieren sollte. Im Gespräch mit diesen
Kindern wird die große Angst deutlich, irgendwann auf der Straße leben zu
müssen.
Wenn Vater oder Mutter mit den Anforderungen des Alltags
nicht mehr zurechtkommen, sie psychisch krank werden oder bei Drogen Trost
suchen, dann erleben Kinder die Erwachsenen als nicht mehr berechenbar. Wer die
Bezugspersonen in verwirrtem Zustand erlebt, schämt sich und übernimmt
gleichzeitig Verantwortung für sie. Diese Rollenveränderung, auch
Parentifizierung genannt, ist mit tiefem Schamerleben verbunden und lässt die
Kinder zwischen Distanz, Aggressivität und Loyalität schwanken.
Sobald Kinder sich für ihre Eltern schämen, ist der Ablauf
seelischer Austauschprozesse gestört. Den Autonomieverlust der Großen erleben
Kinder auch als den eigenen, denn sie sind abhängige Personen, und die Loyalität
zum Erwachsenen ist eine unabdingbare Voraussetzung für ihr Leben. Wenn sich
also zum Beispiel der betrunkene Vater „danebenbenimmt", wird er für das Kind
zur nicht mehr einschätzbaren Person. Er hat seine Autorität und haltgebende
Kraft eingebüßt, ist ein Fremder geworden. Das Kind schämt sich für diese
Veränderung, fühlt sich der Situation ohnmächtig ausgeliefert. Es hat etwas
gesehen, was seinem inneren Bild von Beziehung nicht mehr entspricht.
Von diesem leidvollen Erleben erzählt Ursula Wölfel in der
Vorlesegeschichte „Das Miststück": Die arbeitslose und alkoholabhängige Mutter
zweier Kinder geht in betrunkenem Zustand auf den Schulhof, wo ihr Sohn mit
seinen Freunden Fußball spielt. Bei ihrem Anblick schämt sich der Junge
abgrundtief und distanziert sich von ihr, indem er sich auf die Seite seiner
Freunde stellt, welche die auf unsicheren Beinen herumtorkelnde Mutter
verspotten. Als sie im Chor „Miststück" rufen, wird die große Abscheu des Jungen
vor seiner Mutter sicht- und hörbar, denn er schweigt nicht, sondern stimmt in
den Chor mit ein. Doch schnell verändert sich die Szene, der Junge wird
zwangsläufig zum „Hüter" seiner Mutter und bringt die Hilflose nach Hause.
Ein schlechtes Erziehungsmittel
Kinder haben ein sehr feines Gespür für unangemessenes
Verhalten von Erwachsenen. Wenn sie heftig angeschrien und niedergemacht werden,
schämen sie sich nicht nur für ihre Fehler, sondern auch für die Entgleisung der
Großen. Das Anschreien der Kinder wirkt für den überforderten Erwachsenen als
Ventil und bringt eine kurzzeitige Entlastung, weil beschämte Kinder
vorübergehend zu „braven" Kindern werden. Wenn diese ihre schamerfüllten
Gesichter senken, gilt dies als Beweis für die Wirksamkeit dieser (pseudo-)pädagogischen
Brechstange. Doch Beschämung arbeitet immer mit einem Negativbild, das im Kind
schlechte Gedanken und Gefühle hervorruft, Angst vor dem eigenen Tun weckt und
Selbstvertrauen zerstört. Die Botschaft der Beschämung heißt: „Du bist ein
Nichts!" Sie meldet sich als negative innere Stimme der Selbstentwertung. Das
spontane Tun des Kindes unterliegt danach der Geißel der Selbstzensur.
Den Stachel der Scham nutzen!
Aus der Welt lässt sich die Scham nicht schaffen. Doch wer
sie aushält, lernt danach ihr Gegenstück, den Stolz kennen. Sobald Kinder
erleben, dass Fehlermachen nicht schlimm ist, dass der Erwachsene sich ihm
geduldig zuwendet, um nach einer Lösung zu suchen, machen beide wichtige
Schritte in den Bereich der Fehlerkultur. Dort werden Fehler nicht als
beschämend gebrandmarkt, der Druck der Scham-Angst weicht und Kräfte werden
freigesetzt. Hat ein Kind die eigene Grenze überwunden, lernt es positive
Gefühle kennen, ist zufrieden mit seinem Tun und stolz auf sich selbst. Das tut
gut!