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Die Nacht zum Tage machen
In keinem Lebensabschnitt wird so viel geträumt, wie in der
Kindheit. Träume gehören zum Kind und können pädagogisch genutzt werden. Was
dabei zu beachten ist und wie das geht, lesen Sie am besten selbst.
Am helllichten Tag fange ich an zu träumen, und schon läuft
vor meinem inneren Auge ein Film ab: Es ist früher Morgen im Kindergarten, die
Erzieherinnen stehen beieinander, warten auf die Kinder, reden dies und das. Auf
einmal sagt eine: »Heute Nacht habe ich einen bösen Traum gehabt. Ich träumte,
in unserem Kindergarten sind Diebe und Einbrecher, die alle Spielsachen klauen.
Ich will sie daran hindern, doch ich komme gegen die Räuber nicht an und kann
mich nicht durchsetzen. Das war grässlich!« Schnell ist ein lebhaftes Gespräch
im Gange, wirkt die Traumerzählung ansteckend, stellen die Kolleginnen erstaunt
fest, dass sie nicht die einzigen sind, die ab und zu von ihrem Arbeitsplatz
träumen.
Und da kommen auch schon die ersten Kinder. Ein sechsjähriger Junge stürmt in
seinen Gruppenraum und ruft: »He, hört mal her, ich hab was ganz Tolles
geträumt!« Schnell setzen sich alle Kinder im Kreis um ihn herum und hören zu,
als er seinen Traum erzählt.
Allerdings werde ich beim Tagträumen jäh unterbrochen von einem Chor heftig
protestierender Stimmen aus dem Land der herkömmlichen Pädagogik. Empört wird
mir entgegengerufen: »Was, jetzt sollen wir uns auch noch um Träume kümmern?
Sollen wir etwa die Nacht zum Tage machen? Träume gehören doch zum Intimbereich
eines Menschen und sind geschützte Daten!«
Diese Vorbehalte und Widerstände sind ernst zu nehmen. Wir leben nun mal in
einer Kultur, in der die Träume der Kinder im Bereich pädagogischer
Einrichtungen selten etwas zu suchen haben. Kinder sollen sich als
unbeschriebene Blätter morgens dem Tag zuwenden und sich kontinuierlich offen
und neugierig ihrer pädagogisch zubereiteten Welt zuwenden. Dabei wird das
nächtliche Erleben im Traum negiert und vergessen, dass es keinen anderen
Lebensabschnitt gibt, in dem so viel und intensiv geträumt wird wie in der
Kindheit. Mein Tagtraum wirkt wie eine Utopie aus einer anderen Welt. Aber woher
kommt es, dass das träumende Kind in den meisten pädagogischen Einrichtungen ein
vergessenes Kind ist?
Aus den Träumen gibt es kein Entrinnen
Erinnern Sie sich an einen Traum aus ihrer Kindheit?
Erwachsene, welche diese Frage mit Ja beantworten, berichten häufig von
eindrücklichen Träumen, die sie ihr Leben lang nicht vergessen. Gleichzeitig
erwähnen sie, dass Menschen in ihrer Familie oder ihrem Umfeld sich für ihre
Träume interessiert haben und eine Offenheit zu spüren war, sodass sie erzählen
konnten, was sie nachts alles erlebt haben. Wer es nicht so gut hatte und als
Kind mit seinen Träumen allein blieb, dem fehlt die Erinnerung daran. Er hatte
keine Möglichkeit zum Erzählen. Auf diese Weise gingen die Träume verloren, denn
das Erzählen trägt dazu bei, ob etwas im Gedächtnis gespeichert wird oder nicht.
Jeder Traum entfaltet in einem Kind ein bildhaftes Geschehen, das bizarr,
ängstigend und bedrohlich, aber auch angenehm und erfreulich sein kann. Dadurch
bildet sich eine divergierende und vielgestaltige Gefühlslandschaft, die sich in
den unterschiedlichen Bildern und Symbolen ausdrückt. Ob das Kind will oder
nicht, es muss gute und schlechte Emotionen aushalten, denn aus dem
Traumgeschehen gibt es kein Entrinnen. Beim Aufwachen ist es deshalb noch ganz
erfüllt von der Energie des Traums, und die gefürchteten Albträume, die auch
dann noch in ihm stecken, wenn der Traum längst vorüber ist, bringt es in seinem
Rucksack in den Kindergarten mit.
Auf die Frage, wie hast du geschlafen, warten viele Kinder
Die vierjährige Milena, ein aktives und fröhliches Kind,
wirkt seit einigen Tagen bedrückt und igelt sich ein. Eines Morgens setzt sich
die Erzieherin zu ihr, fragt dies und das, fragt auch, wie das Kind denn derzeit
schlafe. Auf diese Frage scheint Milena gewartet zu haben, denn auf einmal
sprudeln die Worte aus ihr heraus und sie erzählt einen schlimmen Albtraum:
»Jede Nacht kommen Monster, und die sind ganz böse und wollen mich fressen, und
dann bin ich ganz allein und die gehen gar nicht weg. Immer sitzen die an meinem
Bett, und dann wach ich auf.« Das Kind wirkt erleichtert, seine Gesichtszüge
entspannen sich beim Erzählen.
Was ist geschehen? Solange das Mädchen allein mit sich war, kreisten seine
Gedanken immer wieder um das Geschehen im Albtraum. Vielleicht hatte sie zuhause
auch gesagt bekommen: Es gibt keine Monster! Das ist eine der Lügen, zu der
Erwachsene gerne Zuflucht nehmen, um einem Kind seinen Angsttraum auszureden.
Sie sind unsicher und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Aber diese
Antwort hilft dem Kind nicht, denn Milena trifft eine Zeit lang jede Nacht auf
ein Monster. Das alles ist reales Geschehen für das Kind. Wenn es keine Chance
hat, mit einem Erwachsenen darüber zu sprechen, bleibt es mit sich und einem
diffusen Angstgefühl allein.
Milena hat Glück, auf eine Erzieherin zu treffen, die im Gespräch noch einmal
mit ihr in das Traumgeschehen hineingeht. Jetzt kann das Mädchen seine Gefühle
sprachlich ausdrücken, sie benennen; sie werden ihm bewusst, und es erinnert
sich an frühere Träume mit ähnlichem Inhalt, vergleicht und verknüpft seine
Einsichten. Das Gefühl der Verlassenheit weicht, und das kurze Gespräch mit der
Erzieherin bringt ihre Energie wieder in Fluss. Jetzt kann sie sich tatkräftig
in den neuen Tag hinein begeben.
Eigentlich ist es ja etwas ganz Einfaches und Natürliches: Ein Kind hat schlimm
geträumt, ist deshalb bedrückt, kann darüber mit einem Erwachsenen sprechen und
ist danach wieder gut drauf. Ein wichtiger Beitrag zur emotionalen Erziehung
eines Kindes geschieht - ohne pädagogischen Kraftakt - durch eine Geste der
Empathie. Sie gelingt allerdings nur den Erwachsenen, die Zugang zur Welt der
Träume haben und sie als Ergänzung des Tagesbewusstseins in ihren Alltag mit
hinein nehmen.
TIPPS
Es tut Kindern gut, wenn sie nach ihren Gefühlen beim
Aufwachen gefragt werden, denn die Gefühle drücken die emotionale
Färbung des Traums aus. Die als gut bezeichneten Träume bringen stets
eine frische und belebende Energie, die sich im Körper angenehm anfühlt
und froh stimmt. Die schweren Träume belasten das Körpergefühl und
beeinträchtigen die Tagesstimmung. Für kleine Kinder, die anfangen, ihre
Träume zu erzählen, was meist im Alter zwischen zwei und vier Jahren
geschieht, stellt es eine enorme Leistung dar, gute und böse Träume
voneinander unterscheiden zu können.
Im Umgang mit Kindern lernen Erwachsene eine neue Art
des Umgangs mit Träumen kennen. Während Erwachsene Wert auf Deutungen
oder Analysen legen, verstehen Kinder ihre Träume direkt. Auch wenn sie
nach der Bedeutung eines Traumes fragen, wäre es falsch, ihnen eine
rationale Interpretation zu geben. Besser ist es, mit dem Kind in die
Bilderwelt hineinzugehen. Wie bei den Märchen auch, braucht die Bilder-
und Symbolwelt keine Übersetzung. Dadurch kommt ein Element von
spielerischer Leichtigkeit in den Umgang mit Träumen, von dem Erwachsene
profitieren.
Es ist wichtig, Kinder nach ihrem Gefühl beim
Aufwachen zu fragen, denn darin steckt die Energie des Traums. Anfangs
können stereotype Bezeichnungen auftauchen, wie cool, geil, stark. Doch
nach einiger Zeit zeigt sich eine zunehmende emotionale Differenzierung
in der Sprache. Dann tauchen andere Eigenschaftswörter für ihre Gefühle
auf, und wenn der Erwachsene die Worte des Kindes wiederholt, gewinnt es
ein immer stärker werdendes Gefühl für seine eigene ganz individuelle
Sprache, und es kann auf den Einheitsbrei von >cool< und >geil<
verzichten.
Beim Träume-Erzählen formt sich Sprache ganz von
alleine, und die sprachschöpferische Energie, welche in den Traumbildern
steckt, setzt auch sprachgehemmte Kinder in die Lage, einen langen Traum
zu erzählen. In einer Zeit, in der über die Verarmung der sprachlichen
Fähigkeiten unserer Kinder geklagt wird, ergeben sich über die Träume
neue Zugänge zur sprachlichen Entwicklung der Kinder.
Den Gegensatz von Traum und Realität unterscheiden lernen
Kinder beschreiben Gefühle beim Aufwachen aus einem Traum mit
den Worten: Du, ich war noch voll drin im Traum! Sie fühlen sich noch ganz im
Traumgeschehen und spüren dessen energetische Wirkung, die ja beim Aufwachen
nicht zu Ende ist. Auch hier zeigen sich Unterschiede zu den Erwachsenen. Sie
können sich schneller von einem Traum distanzieren, während Kinder länger in ihm
verhaftet bleiben.
Der sechsjährige Max träumt von einer Insel, auf der er allein lebt. Er muss auf
einer Hängebrücke über einen Fluss gehen, in dem gefährliche Krokodile leben,
die nach ihm schnappen. Gleichzeitig verfolgt ihn ein böser Mann. Am Ende
springt er in den Fluss und wacht auf. Als er die Augen aufmacht, hat er den
Eindruck, es sei alles wirklich geschehen.
Der Junge spürt sein Verhaftetsein ans nächtliche Geschehen und kann die
Trennung zwischen Traumwelt und Realität nicht gleich vollziehen. Er ist
zunächst einfach überwältigt von dem bedrohlichen Geschehen. Die Bilder lösen
Angst, Verwunderung und Erstaunen aus, und er braucht einige Momente, um sich zu
orientieren und denkt aufatmend, es war ja nur ein Traum! Später erzählt er in
der Kita seinen Traum. Wenn Kinder auf diese Art und Weise die Gegensätze von
Tag und Nacht, Traumwelt und Realität klar unterscheiden lernen, erhält ihr Bild
von der Welt deutlichere Konturen, was sich stabilisierend auf ihr Selbstgefühl
auswirkt.
Jetzt muss aber endlich auch von den guten Träumen die Rede sein, die ein Kind
mit Freude erfüllen, es in den Tag hinein begleiten, animieren und vorwärts
puschen. Der vierjährige Manuel kommt am Morgen freudestrahlend auf seine
Erzieherin zu und sagt: Ich habe ein Tor geschossen! Das Tor hat er nachts im
Traum geschossen, dort ist ihm geglückt, was er in der Kinder-Fußballmannschaft
noch nicht schaffte. Selig lächelnd lag er im Bett, wollte gar nicht aufstehen,
um die Wirkung des angenehmen Traums so lange wie möglich in sich zu spüren.
Es sind also nicht immer Albträume, die ein Kind tagsüber in seiner Fantasie
beschäftigen. Es können auch schöne Träume sein, die nicht aufhören sollen, die
ein Kind dann im Laufe des Tages einfach weiterträumt, sich aufs Zubettgehen
freut, gespannt ist, was heute Nacht im Traumkino dran ist.
Traumenergie setzt Fantasie und Kreativität frei
Wenn Kinder beim Erzählen dem Fluss des Traumgeschehens
folgen, setzen sie unablässig Bilder in Worte und Sätze um, die nicht an die
Gesetze der Logik gebunden sind. Das Überraschende wird zum Üblichen, das
Grässliche verliert seinen Schrecken, Grenzen können verschwinden, Mauern in den
Himmel wachsen. Das erzählende Kind muss dabei ständig seinen Standort wechseln.
Die auf diese Weise eingeübte Flexibilität beschränkt sich nicht auf die
Bereiche des Traums, sondern überträgt sich auf den Umgang im Lösen von
Alltagsproblemen. Auch Kinder stehen oft vor Entscheidungen, die sie
augenblicklich fällen müssen, auf die sie nicht vorbereitet sind. In solchen
Situationen erweitert eine frei fließende innere Vorstellungskraft ihre
Handlungsmöglichkeiten.
Christoph, knapp fünf Jahre, erzählt einen bösen Traum: »Heute Nacht bin ich in
den Rhein gefallen, weil da war ein ganz böser Tyrannosaurus rex hinter mir her.
Und dann hat der meine Mama, meinen Papa und alle meine Brüder gefressen, und
ich bin den Wasserfall runtergefallen.« In dieser Nacht kann der Junge gegen den
mächtigen Dinosaurier nichts ausrichten und fällt ins Wasser. Doch da in der
Welt des Traums nichts unmöglich ist, sieht die nächste Begegnung mit dem Untier
in der folgenden Nacht ganz anders aus. »Ich hab geträumt, dass der Pikatcho von
den Pokemons Donner und Blitz macht, aber ich hab ihn einfach weggedrückt und
dann hab ich mich unsichtbar gemacht und den Tyrannosaurus rex beobachtet.«
Während im ersten Traum die Erfahrungen von Ohnmacht, Überwältigtwerden und
Kontrollverlust dominieren, zeigt sich Christoph im zweiten Traum als ein
gewitztes Kerlchen, das die Kontrolle über das Geschehen hat.
Was erzählt wurde, kann sich verändern, denn durch die Aufmerksamkeit, die das
Kind mit dem zuhörenden Erwachsenen auf sein Traumgeschehen lenkt, ändert sich
seine Bewertung und Einstellung, sodass es im Folgetraum souveräner ist und für
sich sorgen kann.
Nie haben Kinder Mühe, ein Bild zum Thema Traum zu malen. Es scheint, als ob
solche Bilder leichter zu gestalten sind, weil die Energie des Traums den
Gestaltungsprozess erleichtert. Ein tiefes Gefühl der Befriedigung stellt sich
danach ein. Nie haben Kinder Mühe damit, aus einem erzählten Traum in ein freies
oder gelenktes Rollenspiel überzugehen. Das Darstellen ergibt sich
selbstverständlich, und der Traum kann so gespielt werden, wie er geträumt
wurde, aber er kann sich auch verändern.
TIPPS
Die Kindergruppe kann gerade im Hinblick auf den
Umgang mit bedrohlichen Traumsituationen von großer Hilfe sein. Das
folgende Spiel wird gespielt, nachdem Christoph seinen Traum erzählt
hat:
Jedes Kind gibt ihm einen Gegenstand von sich und spricht einen Wunsch
aus, zum Beispiel: »Ich gebe dir meine Brille, dann kannst du den
Dinosaurier besser sehen.« »Ich gebe dir einen Apfel, den kannst du den
Monstern an den Kopf werfen.« »Ich gebe dir meinen Anorak, dann frierst
du nicht.« »Ich gebe dir meine Mütze, das ist eine Tarnkappe, dann bist
du unsichtbar.« »Ich gebe dir eine Karte von meinen Pokemons, dann bist
du nicht allein.«
Dieses Spiel stärkt den Gruppenzusammenhalt, weckt vielfältige Ideen und
zeigt dem Kind, das gerade einen Albtraum durchgestanden hat, dass es
nicht allein ist, seine Spielkameraden ihn unterstützen mit ihren
Ratschlägen und Gaben. Die Ohnmacht aus dem Albtraum wird überwunden,
Vertrauen zeigt sich wieder.
Träume-Erzählen als Ritual am Morgen
Mein Tagtraum von den Kindern und Erwachsenen, die sich ihre
Träume erzählen, hat einen historischen Hintergrund. Bei Naturvölkern wie den
Senoi war es Sitte, dass sich am Morgen alle Angehörigen des Stammes in eine
Runde setzten, um sich zu erzählen, was nachts in ihren Träumen passierte. Dabei
spielten die Kinder eine wichtige Rolle. Sie durften als erste erzählen, wurden
ermutigt, sich an ihre Träume zu erinnern. Die Botschaft ihrer Träume wurde
beachtet, und wenn sie Albträume gehabt hatten, bekamen sie Tipps und Anregungen
für den Umgang damit.
Warum also nicht von Zeit zu Zeit im Kindergarten am Morgen, in der Tagesstätte
nach dem Mittagsschlaf zusammensitzen und Träume erzählen? Solche Runden tragen
zum Angstabbau bei, denn oft meinen Kinder, sie seien nicht o.k., wenn sie viele
Albträume haben, machen sich Sorgen um ihre Gesundheit, trauen sich von allein
aber nicht, einen Erwachsenen um Rat zu fragen. Doch nun hören sie auf einmal,
dass auch andere Kinder nachts schweißgebadet aufwachen, weil der Kinderfresser
unterwegs ist, und sie atmen auf. Ein Gefühl der Solidarität macht sich breit
und wirkt entspannend und gut. Vor allem lernen Kinder auf diese Weise, dass
Träumen eine wunderbare Fähigkeit ist.
Und noch ein Weiteres kommt dazu: In der Traumerzählrunde gibt es keine
Leistungsunterschiede! Beim Träume-Erzählen sind alle gleich, sodass auch das
schwächere Kind seinen Beitrag leisten kann, gesehen und gehört wird, sich gut
in der Gruppe fühlt.
TIPPS
Träume sind Ausdruck der autonom in uns wirkenden
Natur. Lebensmöglichkeiten, Wunschvorstellungen, Sehnsüchte,
Konfliktdarstellungen und Lösungsmöglichkeiten werden von dort
gesteuert. Die im Traum wirkende Kraft des Unbewussten bewirkt das
nächtliche Schlafkino, das aus Tageseindrücken, alten und zukünftigen
Erlebnissen aus dem Speicher der seelischen Festplatte sich immer wieder
neu inszeniert.
Im Traum lernt ein Kind zu handeln, scheitert,
handelt erneut, riskiert einen Schritt in Richtung Neuland, erlebt die
Freude am gefährlichen Tun und hält auch das Scheitern aus. Unablässig
ist es innerlich damit beschäftigt, seine Möglichkeiten auszuprobieren.
Entwicklungsimpulse aus dem Unbewussten unterstützen es dabei.
Es tut Kindern gut, wenn Erwachsene sie für das
loben, was sie in ihren Träumen leisten und aushalten müssen. Träumend
stoßen sie manchmal ja auch auf Situationen, die sie in naher Zukunft
bewältigen müssen. Im Traum bewegt sich das Kind bereits auf Wegen, die
es in der Realität erst später gehen muss. Dadurch erwirbt es einen
Zuwachs an Autonomie.
Träume in Zeiten des Übergangs
In Zeiten des Übergangs träumen Kinder vermehrt, und in ihren
Träumen drücken sich auch Reifungsschritte aus. Im Hinblick auf eine gute
Psychohygiene in der Gruppe lohnt es sich, in den Wochen des Übergangs in den
Kindergarten und später, wenn es um die Einschulung geht, nach ihren Träumen zu
fragen. Das ist ein guter Anlass, um sie bei der emotionalen Verarbeitung der
Veränderung zu unterstützen.
Timo erzählt einen für Übergangszeiten typischen Traum, der an das Märchen von
Hansel und Gretel erinnert. Es geht um die Frage, ob das Essen noch reicht, ob
das Kind noch satt wird an der neuen Schule, ob es so genährt wird, wie es das
gewohnt ist. Bei dem einen Kind stehen die Ängste um sein leibliches Wohlergehen
und die Angst vor dem Verlassenwerden im Vordergrund, bei einem anderen Kind ist
es die neue Situation des Leistungsnachweises durch Noten, die sich in seinen
Träumen niederschlägt. Michaela träumt: »Meine ganze Familie ist bei einem Quiz
dabei, und wir müssen viele Fragen beantworten. Jeder, der eine falsche Antwort
gibt, wird getötet. Dann bin ich dran, und ich wach auf und schrie ganz laut.
Aber die Mama holt mich in ihr Bett.«
In den kritischen Übergangszeiten erweitert sich der Lebensrahmen der Kinder.
Unablässig durchlaufen sie Wachstumsprozesse; ihre Albträume dokumentieren die
große Dynamik des Geschehens und bereiten gleichzeitig auf das Neue vor. In
diesen Wochen und Monaten können die Geschichte vom Traumfänger - wird auch
Traumsieb oder Dreamcatcher genannt - und das gemeinsame Gestalten dieses
Objektes eine große Hilfe sein.
Die Geschichte vom Dreamcatcher
Im Stamm der Navajo hängt die Mutter über das Bett des Kindes
ein Traumsieb, um ihm eine Hilfe zur Verarbeitung seiner Träume zu geben. Die
folgende Erzählung enthält gleichzeitig die Anleitung, wie dieser kleine
Gegenstand hergestellt wird:
Vor langer Zeit lebte eine Familie in großer Not, denn alle Erwachsenen und die
Kinder hatten schreckliche Träume. Der Vater wusste nicht ein und aus und machte
sich eines Tages auf den Weg, um beim Großen Geist Rat zu suchen. Er setzte sich
in die Prärie und hörte lange auf das Flüstern des Windes. Da krabbelte eine
Spinne zu ihm her, setzte sich neben ihn und schaute ihn mit ihren klugen Augen
an. Der Vater erzählte ihr von seinem Kummer, und die Spinne versprach, ihm zu
helfen.
Sie riss zwei Grashalme aus der Erde aus und webte sie zusammen. Dann legte sie
Adlerfedern in das Gewebe und sagte, das sei der Geist der Luft. Danach kam ein
Stein ins Gewebe, und sie sagte, der Stein sei der Geist der Erde. Dann legte
sie eine Muschel ins Gewebe und sagte, das sei der Geist des Meeres. Zum Schluss
kam noch ein Strang Perlen ins Gewebe, und sie sagte, dies sei der Geist des
Feuers.
Nun gab sie dem Vater den Rat, diesen Traumfänger über seinem Bett und dem Bett
seiner Kinder aufzuhängen. »Du wirst gut schlafen«, sagte sie. »Die guten Träume
gelangen durch die Maschen des Netzes in die Welt. Die schlechten Träume aber
bleiben zunächst im Netz hängen. Dort werden sie festgehalten, bis der erste
Strahl der Sonne sie verbrennt.«
Der Traumfänger schafft Distanz zum bösen Traum, denn das bedrohliche Gefühl
findet außen ein Objekt, das es festhält. Diese Verlagerung nach außen
entlastet, und beim Aufwachen verwandelt sich das Bedrohliche der Nacht durch
die Sonne in positive Energie. Bei diesem Vorgang findet eine Transformation des
dunklen Erlebens ins helle Licht statt.
Kinder sind von der magischen Wirksamkeit des Traumsiebs
überzeugt, sodass es nicht verwunderlich ist, wenn sie in den Wochen danach
keine Albträume mehr haben. Tauchen diese wieder auf, weil sie einfach zum Leben
gehören, kann der Blick auf den Traumfänger das Kind daran erinnern, dass sich
das Schlimme ja verändern wird. Auf diese Weise hilft der Traumfänger bei der
Integration von Träumen und wird für die Psychohygiene des Kindes bedeutsam.
Jedes Kind, das einen Traum erzählt, schenkt dem Erwachsenen Vertrauen und
Zugang zu einem Teil seines Wesens, der sonst im Verborgenen liegt. »Du, ich
will dir einen Traum erzählen«, sagt das Kind, und die Antwort des Erwachsenen
kann nur heißen: »Ich höre dir gerne zu!«
TIPPS
Manchmal wollen Kinder wissen, was die Erwachsenen
träumen. Wer den Mut hat, einen Traum zu erzählen, wird staunen über die
Einfühlung der Kinder, ihre Fürsorge, wenn es sich um einen Angsttraum
handelt und ihren Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Ratschläge für
einen guten Ausgang des Traums zu geben. Es ist für beide Seiten ein
wichtiges Erlebnis, weil die sonst üblichen Rollen vertauscht sind.
In den Tagen und Wochen, in denen in der Presse und
im Fernsehen über Kindesentführungen berichtet wird, träumen Kinder
vermehrt Albträume vom Kinderfresser, Kinderklauer, der Hexe, dem
schwarzen Mann und von Kindermördern. Diese Träume helfen bei der
Angstverarbeitung.
Im Gruppenraum kann eine Ecke für Bilder von diesen
dunklen Träumen reserviert werden. Das entlastet die Kinder. Spiele wie
»Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« oder »Ist die schwarze Köchin da?«
stabilisieren die Gruppe.
In einer anderen Ecke die Gegenwelt inszenieren,
Bilder von guten Träumen aufhängen. An manchen Tagen die Kinder
auffordern, sich dem entsprechenden Ort zuzuordnen, je nachdem, was sie
geträumt haben. Das gibt tiefe Einblicke in die Dynamik der Gruppe und
ist für die Kinder sehr spannend.
(Welt des Kindes - Spezial 2/2003)
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